Die erste Nacht - Roman
wenig über Sie weiß.«
»Führen Sie Selbstgespräche, Walter?«, fragte Tante Elena.
»Nein, warum?«
»Ich versichere Ihnen, Sie schienen etwas zu murmeln. Ihre Lippen haben sich bewegt.«
Die Ampel sprang auf Rot. Walter bremste und sah Elena an.
»Ich muss heute Abend einen wichtigen Anruf tätigen und studiere meinen Text ein.«
»Nichts Schlimmes?«
»Nein, nein, seien Sie unbesorgt, im Gegenteil.«
»Sie verheimlichen mir doch nichts? Wenn es eine andere in Ihrem Leben gibt, eine Jüngere, meine ich, dann kann ich das
durchaus verstehen, aber ich möchte es einfach wissen, das ist alles.«
»Ich verheimliche Ihnen absolut gar nichts, so etwas würde ich mir niemals erlauben. Es gibt keine Frau, die ich begehrenswerter finden könnte als Sie.«
Kaum war das Geständnis ausgesprochen, standen Walters Wangen in Flammen. Er wurde rot wie eine Tomate und begann zu stottern.
»Mir gefällt Ihre neue Frisur«, sagte Elena. »Ich glaube, wir haben Grün, man hupt schon hinter uns, Sie sollten losfahren. Ich bin so glücklich, den Buckingham Palast zu besuchen. Glauben Sie, wir haben eine Chance, die Queen zu sehen?«
»Vielleicht«, erwiderte Walter. »Wenn sie ausgeht, man weiß ja nie …«
St. Mawes
Wir schliefen einen Großteil des Tages, und als ich die Vorhänge aufzog, begann es bereits zu dämmern.
Wir hatten beide einen Bärenhunger. Keira kannte einen Teesalon ein paar Straßen von unserem Gasthof entfernt und zeigte mir unterwegs das Dorf. Als ich die kleinen weißen Häuser sah, die sich an die Hänge schmiegten, stellte ich mir vor, irgendwann eines davon zu besitzen. War es denkbar, dass ich, der ich über den halben Planeten gereist war, mich am Ende in diesem kleinen Dorf in Cornwall niederlassen würde? Ich bedauerte, dass sich zwischen Martyn und mir diese Distanz eingestellt hatte, er hätte mich sicher gerne von Zeit zu Zeit besucht. Wir hätten uns zu einem Bier an den Hafen gesetzt und alte Erinnerungen ausgetauscht.
»Woran denkst du?«, wollte Keira wissen.
»An nichts Besonderes«, erwiderte ich.
»Du schienst so weit weg … Hatten wir nicht gesagt ›kein Schweigen zwischen uns‹?«
»Wenn du’s genau wissen willst, ich fragte mich, was wir nächste Woche und die darauf folgenden tun werden.«
»Ach, du hast also Pläne für die nächste Woche?«
»Nicht die geringsten!«
»Ich schon!«
Keira sah mich an und legte den Kopf schräg.
»Ich möchte eine Aussprache mit Ivory. Dazu musst du dich aber an einer kleinen Lüge beteiligen …«
»Welche Art von Lüge?«
»Er soll glauben, dass wir in Russland das dritte Fragment gefunden haben.«
»Wozu? Was könnte uns das bringen?«
»Dass er uns verrät, wo sich das in Amazonien entdeckte befindet.«
»Er hat uns gesagt, dass er es nicht weiß.«
»Er hat uns viele Sachen erzählt, er hat uns viele andere verschwiegen, dieser alte Fuchs. Egorov hatte nicht ganz unrecht, als er Ivory vorgeworfen hat, uns wie zwei Marionetten zu manipulieren. Wenn wir ihn glauben lassen, dass wir drei Fragmente in unserem Besitz haben, wird er der Versuchung nicht widerstehen können, das Puzzle zu vollenden. Ich bin sicher, er weiß mehr, als er uns sagen will.«
»Ich fange an, mich zu fragen, ob du nicht noch mehr manipulierst als er.«
»Er ist begabter als ich, und ich hätte nichts gegen eine kleine Rache einzuwenden.«
»Okay, stellen wir uns also vor, dass er uns diese Lüge abnimmt und uns verrät, wo sich das vierte Stück befindet. Dann würde doch immer noch das fehlen, das auf dem Man-Pupu-Nyor-Plateau versteckt ist, und unsere Himmelskarte bliebe unvollständig. Wozu also die ganze Mühe?«
»Nur weil ein Teil eines Puzzles fehlt, heißt das nicht, dass man sich kein Bild vom Ganzen machen kann. Wenn wir unsere Fossilienreste entdecken, sind sie selten, das heißt eigentlich nie, komplett. Anhand einer ausreichenden Zahl von Gebeinen können wir uns die fehlenden Elemente vorstellen und damit das Skelett, also die Gesamtheit des Körpers, rekonstruieren. Das heißt, wenn wir Ivorys Fragment zu unseren beiden hinzufügen, kannst du vielleicht verstehen, was uns diese Karte enthüllen soll. Außer du kündigst mir an, dass du den Rest
deines Lebens in diesem kleinen Dorf verbringen willst, um fischen zu gehen, sehe ich keine andere Lösung.«
»Was für eine merkwürdige Vorstellung!«
Zurück im Hotel, rief Keira zunächst ihre Schwester an. Sie verbrachten eine gute Weile am Telefon. Keira erzählte ihr nichts
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