Die erste Nacht - Roman
Handschuhen für mich an Deck. Der Mann nutzte die Gelegenheit,
um eine Zigarette zu rauchen. Und um mich auf andere Gedanken zu bringen, verwickelte er mich in ein Gespräch und erzählte mir etwas von dem Schiff.
Dreißig Besatzungsmitglieder waren an Bord, Offiziere, Maschinisten, Bootsmann, Köche, Matrosen. Er erklärte, das Beladen der Schüttgutfrachter sei eine sehr komplexe Angelegenheit, von der die Sicherheit der Reise abhinge. In den Achtzigerjahren seien Schiffe wie diese so schnell gesunken, dass keines der Besatzungsmitglieder hätte gerettet werden können. Sechshundert seien so den Seemannstod gestorben. Die größte Gefahr bestünde darin, dass die Ladung verrutsche. Der Frachter würde dann in Schräglage geraten und kentern. Um das zu verhindern, würden kleine Schaufelbagger das Schüttgut in den Laderäumen durchrühren. Doch das sei nicht die einzige Gefahr, die uns drohe, fügte er hinzu und zog an seiner Zigarette. Wenn eine zu hohe Welle Wasser durch die Luke triebe, könne der Rumpf durch das zusätzliche Gewicht in den Laderäumen entzweibrechen. Dasselbe Ergebnis: Das Schiff würde innerhalb weniger Augenblicke sinken. Diese Nacht herrsche aber auf dem Ärmelkanal nur leichter Seegang, und so würden wir nichts riskieren, es sei denn, es käme unvorhergesehen ein starker Sturm auf. Der Zweite Offizier warf seine Kippe über Bord, ging wieder an seine Arbeit und ließ mich nachdenklich zurück.
Keira besuchte mich mehrmals und flehte mich an, zu ihr in die Kabine zu kommen. Sie brachte mir Sandwiches, die ich ablehnte, und eine Thermoskanne mit Tee. Gegen Mitternacht ging sie schlafen, nachdem sie x-mal wiederholt hatte, wie lächerlich es sei, hier draußen zu bleiben, ich würde mir den Tod holen. Fest eingehüllt in mein Ölzeug, hockte ich am Fuß des Mastes, an dem die Topplichter angebracht waren, und schlief, gewiegt vom Meeresrauschen, schließlich ein.
Keira weckte mich am frühen Morgen. Ich lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Vordersteven. Inzwischen hatte ich ein wenig Hunger, der mir aber sofort verging, als ich in die Kombüse trat. Ein Gestank nach Fisch und ranzigem Fett vermischte sich mit dem von Kaffee. Mir wurde übel, und ich stürzte erneut nach draußen.
»Was du dahinten siehst, ist die holländische Küste«, sagte Keira, die mir gefolgt war. »Bald hat dein Martyrium ein Ende.«
»Bald« ist ein relativer Begriff, und ich musste mich noch vier Stunden gedulden, bis endlich das Nebelhorn ertönte, der Frachter das Tempo drosselte und Kurs auf die Fahrrinne nahm, die zum Hafen von Amsterdam führte.
Sobald das Schiff am Kai vertäut war, gingen wir von Bord. Ein Zollbeamter erwartete uns am Fuß der Gangway, überprüfte rasch unsere Pässe, wühlte in unseren Taschen mit den wenigen Habseligkeiten, die wir in einem Geschäft in St. Mawes erstanden hatten, und ließ uns passieren.
»Wohin gehen wir jetzt?«, fragte ich Keira.
»Dahin, wo es eine Dusche gibt!«
»Und dann?«
Sie zeigte auf ihre Uhr.
»Wir treffen Ivory um sechs in einem Café …«
Sie zog einen Zettel aus der Tasche.
»… auf dem Dam, dem Hauptplatz von Amsterdam.«
Amsterdam
Wir hatten ein Zimmer im Grand Hotel Krasnapolsky genommen. Es war nicht gerade das billigste Quartier in der Stadt, lag aber nur fünfzig Meter von dem Café entfernt, in dem wir mit Ivory verabredet waren. Am späten Nachmittag führte mich Keira auf den großen Platz, wo wir uns unters Volk mischten. Eine lange Schlange wartete geduldig vor Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett, andere Touristen stärkten sich auf der Terrasse des Europub unter wärmenden Gasstrahlern, doch Ivory war nicht unter ihnen. Ich entdeckte ihn als Erster. Er trat an unseren Tisch gleich hinter der Fensterfront, wo wir uns niedergelassen hatten.
»Ich freue mich, Sie zu sehen«, sagte er und nahm Platz. »Was für eine Reise!«
Keira zeigte ihm die kalte Schulter, und der alte Professor spürte sogleich, dass er kein leichtes Spiel haben würde.
»Sind Sie mir böse?«, fragte er mit einem spöttischen Lächeln.
»Warum sollte ich? Wir wären ja nur beinahe in einen Abgrund gestürzt, ich wäre fast in einem Fluss ertrunken, ich habe mehrere Wochen in einem chinesischen Gefängnis verbracht, man hat im Zug auf uns geschossen, und wir wurden von einem Militärkommando, das zwanzig Männer vor unseren Augen niedergeschossen hat, aus Russland verjagt. Ich erspare Ihnen die detaillierte Beschreibung der extremen Bedingungen, unter
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