Die erste Nacht - Roman
verschwunden.
Ich muss daran denken, was mir meine Mutter auf Hydra gesagt hatte, um mich zu trösten: »Einen geliebten Menschen zu verlieren ist furchtbar, doch noch schlimmer wäre es, ihn nie kennengelernt zu haben.« Dabei dachte sie an meinen Vater, doch die Worte bekommen einen anderen Sinn, wenn man sich schuldig fühlt am Tod derer, die man liebt.
Auf der glatten Oberfläche des Moguecuo-Sees spiegeln sich die verschneiten Gipfel. Als wir ins Xinduqiao-Tal hinabfahren, beschleunigt sich das Tempo ein wenig. Im Gegensatz zum Atacama-Hochplateau ist hier alles von einer üppigen Vegetation beherrscht. Yakherden weiden auf den saftigen Wiesen, auf den Grünflächen im Talkessel wachsen Ulmen und weiße Birken. Sobald wir unter viertausend Meter sind, lässt meine Migräne nach. Dann hält der Bus plötzlich. Der Fahrer wendet sich zu mir um - es ist Zeit auszusteigen. Außer der Straße sehe ich nur einen steinigen Weg, der zum Berg Gongga Shan führt. Der Chauffeur brummt etwas und schüttelt den ausgestreckten Arm, woraus ich schließe, dass er mich bittet, meine Überlegungen auf der anderen Seite der geöffneten Ziehharmonikatür fortzusetzen, durch die jetzt eisige Luft hereindringt.
Ich stehe zitternd in der Kälte, die Tasche zu meinen Füßen, und sehe dem Bus nach, der hinter einer Kurve verschwindet.
Ich bin ganz allein in dieser archaischen, windgepeitschten Hochebene, deren Erde die Farbe der Gerste und des Sandes
angenommen hat, hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Von dem Kloster aber, das ich suche, keine Spur. Ich kann hier nicht draußen schlafen, ich würde erfrieren. Ich muss gehen. Aber wohin? Ich weiß es nicht, doch die einzige Möglichkeit, der Kälte zu widerstehen, ist Bewegung.
In der absurden Hoffnung, vor der Nacht fliehen zu können, gehe ich von Berghang zu Berghang der untergehenden Sonne entgegen.
Plötzlich entdecke ich in der Ferne, wie eine Vorhersehung, ein schwarzes Nomadenzelt.
Und genau aus dieser Richtung kommt ein tibetisches Kind auf mich zugelaufen. Ein Mädchen von drei, vielleicht vier Jahren, die Wangen so rot wie Äpfel, die Augen glänzend. Angesichts meines so anderen Aussehens bricht sie in Lachen aus, das im Tal widerhallt. Mit weit geöffneten Armen trippelt sie auf mich zu, hält wenige Meter vor mir an und rennt zu ihrer Familie zurück. Ein Mann tritt aus dem Zelt und kommt auf mich zu. Ich strecke ihm die Hände entgegen, er führt die seinen zusammen, verneigt sich und bedeutet mir, ihm zu folgen.
Die schwarzen von Holzpfeilern gestützten Kohtenplanen bilden eine Kuppel. Drinnen ist die Jurte geräumig. Auf einer steinernen Feuerstelle bereitet eine Frau eine Art Ragout zu, dessen Duft den Raum erfüllt. Der Mann macht mir ein Zeichen, Platz zu nehmen, reicht mir eine Schale Reisschnaps und stößt mit mir an.
Ich teile das Essen der Nomadenfamilie. Die Stille wird nur vom Lachen der Kleinen mit den Apfelbäckchen unterbrochen. Schließlich schläft sie an die Mutter geschmiegt ein.
Als es Nacht wird, führt mich der Nomade aus dem Zelt. Er setzt sich auf einen Stein und bietet mir eine selbst gedrehte Zigarette an. Gemeinsam betrachten wir den Himmel.
Schon lange habe ich ihn nicht mehr so gesehen. Ich entdecke eine der schönsten Konstellationen, die es im Herbst östlich des Andromeda-Sternbilds gibt. Ich deute mit dem Finger auf die Sterne und zähle meinem Gastgeber die Namen auf. »Perseus«, sage ich laut, der Mann folgt meinem Blick, wiederholt »Perseus« und lacht; es ist dasselbe helle Lachen wie das seiner Tochter, hell wie der Schein, der das Himmelszelt über unseren Köpfen erleuchtet.
Ich schlafe, geschützt vor Kälte und Wind, in ihrem Zelt. Am Morgen reiche ich meinem Gastgeber den Zettel, doch er kann nicht lesen und beachtet ihn nicht weiter. Es wird Tag, und er hat seine Arbeit zu verrichten.
Als ich ihm helfe, Reisig aufzulesen, versuche ich, das Wort »Garther« auszusprechen, wobei ich jedes Mal in der Hoffnung, er würde reagieren, die Betonung verändere. Doch nichts geschieht, er bleibt völlig ungerührt.
Nach dem Holzsammeln müssen wir Wasser holen. Der Nomade reicht mir einen leeren Schlauch, legt den seinen über die Schulter und zeigt mir, wie ich ihn tragen muss. Dann machen wir uns auf den Weg.
Nach zweistündigem Marsch entdecke ich von einem Hügel aus einen Fluss, der sich durchs hohe Gras schlängelt. Der Nomade hat ihn vor mir erreicht. Als ich ihn einhole, badet er schon darin. Ich
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