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Die erste Nacht - Roman

Die erste Nacht - Roman

Titel: Die erste Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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einzige Trost in dieser Hölle waren die Kuchen, die Ihre reizende Tante mir mitgebracht hat.«

    »Entschuldigen Sie, Walter, aber was haben Sie plötzlich mit Elena?«
    »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
    »Von meiner ›reizenden‹ Tante?«
    »Ich habe das Recht, Ihre Tante reizend zu finden, oder? Ihr Humor ist reizend, ihr Lachen ist reizend, ihre Art, Konversation zu machen, ist reizend, und ich weiß nicht, wo da das Problem sein sollte.«
    »Sie ist zwanzig Jahre älter als Sie …«
    »Bravo, welch tolle Einstellung. Ich wusste gar nicht, dass Sie so kleinkariert sind! Keira ist zehn Jahre jünger als Sie, aber in dieser Richtung stört es natürlich nicht! Sektiererisch, jawohl, das sind Sie!«
    »Sagen Sie mir etwa gerade, dass Sie dem Charme meiner Tante verfallen sind? Und was ist, bitte schön, mit Miss Jenkins?«
    »Was Miss Jenkins betrifft, so sind wir immer noch auf dem Stand, uns über unsere jeweiligen Tierärzte auszutauschen. In puncto Sinnlichkeit ist das nicht gerade der siebte Himmel, wie Sie mir zugeben müssen.«
    »Und was ist mit meiner Tante in puncto Sinnlichkeit? Nein, antworten Sie nicht, ich will es gar nicht wissen!«
    »Unterstehen Sie sich, mir etwas in den Mund zu legen, das ich gar nicht gesagt habe. Mit Ihrer Tante kann man sich wunderbar unterhalten, und wir lachen viel. Sie werden uns doch nicht vorwerfen, dass wir uns ein wenig amüsieren nach all den Sorgen, die Sie uns bereitet haben. Das wäre doch wirklich die Höhe.«
    »Tun Sie, was Sie für richtig halten. Was mische ich mich da eigentlich ein …«
    »Ich freue mich, Sie das sagen zu hören.«
    »Walter, ich muss ein Versprechen halten, ich kann nicht
einfach tatenlos bleiben. Ich muss Keira aus China befreien, ich muss sie ins Omo-Tal zurückbringen. Ich hätte sie nie von dort fortholen dürfen.«
    »Erst müssen Sie gesund werden, dann können wir weitersehen. Ihre Ärzte werden nicht auf sich warten lassen.«
    »Walter?«
    »Ja?«
    »Was habe ich im Delirium gesagt?«
    »Sie haben Keira - grob geschätzt - tausendsiebenhundertdreimal beim Namen genannt, mich dagegen nur dreimal, was ganz schön verletzend ist. Nun, Sie haben recht zusammenhangloses Zeug geredet. Zwischen zwei Krampfattacken haben Sie manchmal die Augen geöffnet, den Blick ins Leere gerichtet, was ziemlich beängstigend aussah. Dann sind Sie wieder in Bewusstlosigkeit versunken.«
    Eine Krankenschwester trat ins Zimmer. Walter fühlte sich erleichtert.
    »Endlich sind Sie aufgewacht«, sagte sie und wechselte die Infusionsflasche.
    Sie steckte mir ein Thermometer in den Mund, legte mir die Manschette eines Blutdruckmessgerätes um den Oberarm und trug die Werte in mein Krankenblatt ein.
    »Die Ärzte kommen in einer Stunde«, sagte sie.
    Ihr Gesicht und ihr üppiger Körper erinnerten mich vage an jemanden. Als sie das Zimmer verließ, glaubte ich, eine Mitreisende in einem Bus, der in Richtung Kloster Garther fuhr, zu erkennen. Ein Mitglied der Putzkolonne winkte Walter und mir vom Flur aus zu und schenkte uns ein breites Lächeln. Der Mann trug einen Pullover und eine grobe Strickjacke und sah dem Mann einer Wirtin, der ich in meinen Fieberträumen begegnet war, zum Verwechseln ähnlich.
    »Hatte ich Besuch?«

    »Ihre Mutter, Ihre Tante und ich. Warum diese Frage?«
    »Nur so. Ich habe von Ihnen geträumt.«
    »Mein Gott, wie entsetzlich! Ich verbiete Ihnen, jemandem davon zu erzählen.«
    »Seien Sie nicht albern. Sie waren in Begleitung eines alten Professors, dem ich in Paris begegnet bin, einem Bekannten von Keira. Ich kann Realität und Traum nicht mehr auseinanderhalten.«
    »Machen Sie sich da keine Sorgen. Die Dinge kommen schon wieder ins Lot, Sie werden sehen. Was diesen alten Professor betrifft, habe ich leider keine Erklärung. Aber ich verrate Ihrer Tante kein Wort, denn sie könnte gekränkt sein, in Ihren Träumen als Greis aufgetreten zu sein.«
    »Das muss am Fieber liegen, denke ich.«
    »Gewiss, doch ich bin nicht sicher, dass ihr das als Erklärung ausreicht … Jetzt ruhen Sie sich aus, wir haben zu viel geredet. Ich komme am frühen Abend wieder. Ich werde mit unserem Konsulat telefonieren und fortfahren, sie wegen Keira zu bedrängen. Das tue ich täglich zu einer bestimmten Stunde.«
    »Walter?«
    »Was noch?«
    »Danke!«
    »Aha, immerhin!«
    Walter verließ das Zimmer, und ich versuchte aufzustehen. Meine Knie waren weich, doch indem ich mich aufstützte - zunächst auf die Rückenlehne des Sessels neben meinem

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