Die erste Nacht - Roman
sie am späten Nachmittag wieder aufbrechen, mit dem Bus nach Piräus fahren, um von dort die letzte Fähre nach Hause zu nehmen. Seit meiner Krankheit hatte Elena ihr Geschäft nicht mehr geöffnet, und Mama verbrachte ihre Abende in der Küche und bereitete mit viel Liebe und Hoffnung Gerichte zu, um die Krankenschwestern, die über das Wohl ihres Sohnes wachten, zu verwöhnen.
Es war schon Mittag, und ich glaube, ihr ständiges Geplapper ermüdete mich mehr als die Folgen dieser elenden Lungenentzündung.
Doch als es an der Tür klopfte, verstummten beide. Noch nie hatte ich dieses Phänomen erlebt, das so erstaunlich war, als würden die Zikaden an einem heißen Sommernachmittag ihr Zirpen einstellen. Es war Walter, der eintrat und dem meine verblüffte Miene sofort auffiel.
»Was ist denn los?«, fragte er.
»Nichts, gar nichts.«
»Ich sehe doch genau, was für ein komisches Gesicht Sie machen.«
»Aber nein, ich unterhielt mich gerade mit meiner reizenden Tante Elena und meiner Mutter, als Sie hereinkamen, das ist alles.«
»Worüber haben Sie sich unterhalten?«
Mama ergriff sofort das Wort.
»Ich sagte gerade, dass diese Krankheit womöglich unabsehbare Folgen haben könnte.«
»Ach ja?«, fragte Walter beunruhigt. »Was haben denn die Ärzte gesagt?«
»Nun, die meinen, dass er nächste Woche entlassen werden kann, seine Mutter aber stellt fest, dass ihr Sohn leicht debil geworden ist, so lautet die Diagnose, wenn Sie es genau wissen wollen. Sie sollten mit meiner Schwester Kaffee trinken gehen, Walter, ich habe Adrian ein paar Dinge zu sagen.«
»Das tue ich gerne, doch zunächst - und ich bitte Sie, mir das nicht übel zu nehmen - muss ich von Mann zu Mann mit ihm reden.«
»Nun, wenn Frauen nicht erwünscht sind«, sagte Elena und erhob sich, »dann gehen wir!«
Damit zog sie meine Mutter aus dem Zimmer und ließ Walter und mich allein.
»Ich habe großartige Neuigkeiten«, sagte dieser und setzte sich auf meine Bettkante.
»Fangen Sie trotzdem mit den schlechten an.«
»Innerhalb der nächsten sechs Tage brauchen wir einen Pass, doch es ist unmöglich, ihn in Keiras Abwesenheit zu bekommen!«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Das denke ich mir, aber Sie wollten ja die schlechte Nachricht zuerst hören. Ihr ständiger Pessimismus kann einem ganz
schön auf die Nerven gehen. Also hören Sie zu, denn wenn ich Ihnen eine gute Nachricht ankündige, ist sie auch gut, das können Sie mir glauben. Habe ich Ihnen schon gesagt, dass ich ausgezeichnete Verbindungen zu einigen Ratsmitgliedern der Akademie habe?«
Walter erklärte mir, unsere Akademie habe gemeinsame Forschungs- und Austauschprogramme mit bestimmten chinesischen Universitäten. Das war mir unbekannt. Er berichtete ebenfalls, durch wiederholte Reisen hätten sich bestimmte Kontakte zu verschiedenen Ebenen des diplomatischen Korps entwickelt. Schließlich vertraute er mir an, dank dieser Beziehungen sei es ihm gelungen, ein stilles, aber beharrliches Räderwerk in Gang zu setzen … Eine chinesische Studentin, die ihre Doktorarbeit an der Akademie schrieb und deren Vater Richter war und die Gunst der Regierung genoss, ein paar Diplomaten, die in der Visaabteilung Ihrer Majestät tätig waren, ein türkischer Konsul, der einen großen Teil seiner Laufbahn in Beijing verbracht hatte und dort einige Würdenträger kannte, und so fort, bis schließlich in der Provinz Sichuan wie durch Zauberhand ein ganz anderer Wind wehte. Die örtlichen Behörden waren plötzlich wohlwollender und fragten sich seit Kurzem, ob es dem Pflichtverteidiger, der eine junge Europäerin vertreten hatte, bei den Gesprächen zur Prozessvorbereitung nicht an Vokabular gemangelt habe. Einige Verständigungsprobleme mit seiner Klientin könnten erklären, warum er es unterlassen hatte, dem zuständigen Tribunal mitzuteilen, dass die Ausländerin, die wegen mangelnder Papiere verurteilt wurde, einen gültigen Pass besaß. Nachdem der soeben beförderte Richter besten Willens war, würde Keira begnadigt werden, sofern man dem Gericht von Chengdu schnellstens das fehlende Dokument vorlegte. Man brauchte sie dann nur noch abzuholen und aus der Volksrepublik China zu bringen.
»Ist das Ihr Ernst?«, rief ich und sprang mit einem Satz aus dem Bett, um Walter in die Arme zu schließen.
»Sehe ich aus, als würde ich scherzen? Sie hätten wenigstens so nett sein können zu bemerken, dass ich mir, um Sie nicht unnötig auf die Folter zu spannen, nicht einmal
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