Die erste Nacht - Roman
gesellte ich mich zu dir in der Küche. Du hattest eines meiner Hemden und ein Paar Socken angezogen, die du in einer Schublade gefunden hattest. Unsere Geständnisse vom Vortag hatten eine gewisse Befangenheit, eine Scham zur Folge, die uns vorübergehend etwas voneinander entfernte. Ich fragte dich, ob du den Brief von Max gelesen hättest. Dein Blick wanderte zum Tisch, wo der noch verschlossene Umschlag lag. Ich weiß nicht, warum, doch in diesem Moment hätte ich mir gewünscht, du würdest ihn niemals öffnen. Ich hätte ihn gern in einer Schublade verschwinden lassen, wo wir ihn dann vergessen hätten. Ich wollte nicht, dass dieser verrückte Wettlauf wieder begann, träumte davon, die Zeit mit dir hier in diesem Haus zu verbringen und es nur zu verlassen, um am Ufer der Themse spazieren zu gehen, die Trödelläden von Camden Lock abzuklappern oder Muffins in einem der kleinen Cafés von Notting
Hill zu essen. Doch du öffnetest den Umschlag, und nichts von alledem erfüllte sich.
Du zogst den Brief heraus und lasest ihn mir laut vor, vielleicht um mir zu zeigen, dass du seit gestern kein Geheimnis mehr vor mir hattest.
Keira,
Dein Besuch in der Druckerei hat mich sehr traurig gemacht. Seitdem wir uns in den Tuilerien wiedergesehen haben, sind meine Gefühle für Dich, die ich längst erloschen glaubte, neu aufgeflammt.
Ich habe Dir nie gesagt, wie schmerzhaft unsere Trennung für mich war, wie sehr ich unter Deiner Abreise, Deinem Schweigen gelitten habe, mehr vielleicht noch darunter, Dich glücklich zu wissen und gleichgültig gegen das, was einmal zwischen uns war. Doch ich musste die Tatsache akzeptieren, dass - auch wenn Deine bloße Anwesenheit einen Mann überglücklich machen kann - Dein Egoismus und Deine Abwesenheit eine nie zu füllende Leere hinterlassen. Ich habe schließlich begriffen, dass es sinnlos ist, Dich zurückhalten zu wollen, niemand kann das. Du liebst ehrlich, doch Du liebst nur für eine begrenzte Zeit. Ein Jahr oder zwei des Glücks, das ist schon etwas, auch wenn es sehr viel länger dauert, bis die Wunden danach verheilt sind.
Ich würde es vorziehen, wenn wir uns nicht mehr sehen. Schreib mir nicht und besuch mich nicht, wenn Du in Paris bist. Nicht Dein alter Dozent bittet Dich darum, sondern ein Freund.
Ich habe viel über unser Gespräch nachgedacht. Du warst eine aufmüpfige Studentin, doch ich sagte es bereits, Du hast einen untrüglichen Instinkt, eine kostbare Eigenschaft in Deinem Beruf. Ich bin stolz auf den Weg, den Du eingeschlagen
hast, auch wenn ich nichts dazu beigetragen habe. Jeder Lehrer hätte das Potenzial erkannt, das Du als Archäologin besitzt. Die Theorie, die Du mir erläutert hast, ist nicht abwegig, ich bin sogar geneigt zu glauben, dass Du Dich vielleicht einer Wahrheit annäherst, die uns noch unbekannt ist. Folge dem Weg der Pelasger und der Hypogäen-Kultur, wer weiß, ob er Dich zu etwas Wichtigem führt.
Sobald Du die Druckerei verlassen hast, bin ich nach Hause geeilt und habe Bücher konsultiert, die seit Jahren unberührt in meinem Regal standen, habe archivierte Aufsätze durchforstet, bin meine Notizen durchgegangen. Du weißt, wie pedantisch ich bin, wie perfekt alles geordnet war in meinem Büro, in dem wir so schöne Augenblicke verbracht haben. In einem Heft habe ich dann die Spur eines Mannes wiedergefunden, dessen Recherchen Dir nützlich sein könnten. Er hat sein Leben dem Studium der großen Wanderbewegungen der Völker gewidmet, hat zahlreiche Aufsätze über die asianischen Stämme geschrieben, allerdings wenig veröffentlicht und lieber Vorträge gehalten - einen davon habe ich vor langer Zeit mal gehört. Auch er hatte ganz neue Theorien über die Reisen der ersten Zivilisationen des Mittelmeerraums aufgestellt. Er hatte eine ganze Reihe von Verleumdern, doch wer hat die in unserem Beruf nicht? Es gibt so viel Missgunst bei unseren Kollegen. Besagter Mann ist ein großer Gelehrter, ich verehre ihn sehr. Such ihn auf, Keira. Ich habe gehört, dass er sich nach Yell, auf eine der Shetlandinseln nördlich von Schottland, zurückgezogen haben soll. Dort lebt er wohl völlig vereinsamt und weigert sich, mit wem auch immer über seine Arbeit zu sprechen. Er ist ein tief verletzter Mensch. Doch vielleicht gelingt es Dir mit Deinem Charme, ihn aus seinem Schneckenhaus zu locken und ihn zum Sprechen zu bringen.
Diese berühmte Entdeckung, von der Du seit jeher träumst und die Deinen Namen tragen soll, ist vielleicht in
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