Die erste Nacht - Roman
Zeit. Das Tohuwabohu erinnerte an das während eines Markttags auf dem Lande. Käfige mit Geflügel, Körbe mit Käse und getrocknetem Fleisch, alle Arten von Lebensmitteln, dazwischen Koffer, Kisten und Pakete versperrten den Bahnsteig. Die Reisenden versuchten, sich einen Weg zu dem alten Zug zu bahnen, der Asien in sechs Tagen durchquert. Man beschimpfte sich in allen möglichen Sprachen: Chinesisch, Russisch, Mandschurisch, Mongolisch. Kinder, die sich als fliegende Händler versuchten, verkauften Mützen, Schals, Rasierer, Zahnbürsten
und Zahnpasta. Ein Polizist bemerkte Keira und näherte sich ihr. Ich beschleunigte den Schritt, rempelte ihn an und entschuldigte mich unbeholfen. Während er mich zurechtwies, war Keira schon aus seinem Blickfeld verschwunden - aus meinem übrigens auch.
Über Lautsprecher verkündete eine Stimme die unmittelbar bevorstehende Abfahrt des Zuges, sodass das Gedränge noch größer wurde. Die Schaffner waren überlastet. Noch immer keine Spur von Keira. Ich hatte mich von der Schlange bis zum Wagen Nummer sieben schieben lassen und sah durch das Fenster, wie die Leute auf dem Gang ihre Sitzplätze suchten. Keira aber konnte ich unter ihnen nicht ausmachen. Jetzt war es an mir einzusteigen. Nach einem letzten Blick auf den Bahnsteig hatte ich keine andere Wahl, als mich von dem Menschenstrom, der in den Wagen drängte, hineinschieben zu lassen. Wenn sich Keira nicht im Zug befände, würde ich an der ersten Station aussteigen und sicher einen Weg finden, nach Moskau zurückzukehren. Ich bedauerte, für den Fall, dass wir uns verlieren sollten, keinen Treffpunkt mit ihr ausgemacht zu haben, und überlegte schon, welchen Ort sie wohl wählen würde. Auf dem Gang kam mir ein Polizist entgegen. Ich trat in ein Abteil, doch er beachtete mich nicht weiter. Die beiden Angestellten der Eisenbahngesellschaft, die für den Wagen verantwortlich waren, hatten im Moment anderes zu tun, als die Fahrkarten zu kontrollieren. Ich setzte mich neben ein italienisches Paar, aus dem Nachbarabteil war Französisch zu hören, und auch einige Engländer waren vertreten. Der Zug war das ganze Jahr über eine Touristenattraktion, was sich für uns jetzt als großer Vorteil erwies. Langsam setzte er sich in Bewegung, ein paar Polizisten liefen noch am Gleis des Moskauer Bahnhofs entlang, den wir bald hinter uns gelassen hatten, um durch die tristen grauen Vororte der Hauptstadt zu fahren.
Meine Nachbarn versprachen, auf meine Tasche aufzupassen, und so machte ich mich auf die Suche nach Keira. Ich fand sie weder im nächsten noch im übernächsten Wagen, und auch im dritten war von Keira keine Spur. Sich seinen Weg durch die überfüllten Gänge zu bahnen, erforderte schon eine gewisse Geduld. In der zweiten Klasse herrschte bereits eine Bombenstimmung, die Russen hatten Bier und Wodka ausgepackt und stießen unter lautem Gesang und Gejohle an. Im Speisewagen ging es ähnlich zu.
Eine Gruppe von sechs kräftigen Ukrainern hob ihre Gläser und rief »Vive la France!«. Ich trat näher und entdeckte Keira in bereits ziemlich angeheitertem Zustand.
»Sieh mich nicht so an«, sagte sie, »die sind wirklich sehr nett!«
Sie rückte zur Seite, um mir Platz am Tisch zu machen, und erklärte mir, ihre Reisegefährten hätten ihr beim Einsteigen geholfen, indem sie mit ihren Körpern einen Schutzwall gegen einen Polizisten gebildet hätten, der sich etwas zu sehr für sie interessiert hätte. Ohne sie wäre sie sicher festgenommen worden. Also hatte sie zum Dank eine Runde ausgegeben. So hatte ich Keira noch nie erlebt; auch ich bedankte mich bei ihren neuen Freunden und versuchte, Keira zu überreden, mir zu unseren Plätzen zu folgen.
»Ich habe Hunger, und wir sind im Speisewagen. Außerdem habe ich es satt, dauernd zu rennen. Setz dich und iss!«
Sie bestellte für uns Kartoffeln mit geräuchertem Fisch und noch zwei Gläser Wodka, und eine Viertelstunde später schlief sie an meiner Schulter ein.
Mithilfe eines der Ukrainer trug ich sie zu unserem Abteil. Unsere italienischen Nachbarn belustigte die Situation. Sobald Keira in ihrer Koje lag, murmelte sie ein paar unverständliche Worte und schlief sofort weiter.
Einen Teil dieser ersten Nacht im Transsibirien-Express verbrachte ich damit, durchs Fenster den Himmel zu beobachten. An beiden Enden des Waggons befand sich ein kleines Abteil, in dem eine Prowodniza ihre Arbeit tat. Diese Zugbegleiterinnen, die für den jeweiligen Wagen zuständig waren,
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