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Die erste Nacht - Roman

Die erste Nacht - Roman

Titel: Die erste Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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diese Nummer faxen.«
    Er schrieb einige Ziffern auf ein Blatt Papier und reichte es mir, bevor er hinausging. Keira und ich blieben allein zurück.
    »Was für ein Mistkerl, dieser Thornsten!«
    »Mag sein, aber er hatte keinen Grund, uns die Vergangenheit seines Freundes zu offenbaren. Und nichts beweist, dass er in die Schmuggelgeschäfte verwickelt war.«
    »Und die hundert Dollar? Glaubst du, die waren, um Bonbons zu kaufen? Weißt du, wie viel hundert Dollar in den sechziger Jahren wert waren? Jetzt ruf an, und dann will ich hier weg. Ich fühle mich unwohl in diesem Büro.«
    Da ich mich nicht rührte, griff Keira selbst zum Hörer, den ich ihr jedoch aus der Hand nahm und auf den Apparat zurücklegte.
    »Das gefällt mir nicht, wirklich ganz und gar nicht!«, sagte ich.
    Ich erhob mich und trat ans Fenster.
    »Darf ich erfahren, was du da machst?«
    »Ich denke an unsere Kletterpartie auf dem Hua Shan in zweitausendfünfhundert Meter Höhe, weißt du noch? Würdest du das an einer Gebäudefassade wiederholen - und zwar nur vom zweiten Stockwerk aus?«
    »Was willst du damit sagen?«

    »Ich denke, unser Gastgeber empfängt vor der Akademie gerade die Polizei, die in wenigen Minuten hier sein wird, um uns festzunehmen. Ihr Auto steht unten auf der Straße, ein Ford mit einer schönen Blaulichtlampe. Schließ die Tür ab und komm her!«
    Ich schob einen Stuhl an die Wand, öffnete das Fenster und schätzte die Entfernung ab, die uns von der Feuertreppe an der Ecke des Gebäudes trennte. Der Schnee machte das Gesims zwar rutschig, dank der Quadersteine aber würden wir mehr Halt finden als an der glatten Felswand des Hua Shan. Ich stützte Keira, während sie hinauskletterte, und folgte ihr. Als wir vorsichtig über den Sims liefen, hörte ich, wie an die Tür geklopft wurde. Es würde nicht lange dauern, bis unsere Flucht entdeckt wäre.
    Keira bewegte sich mit unglaublicher Behändigkeit an der Fassade entlang und kam trotz Schnee und Wind gut voran. Ich folgte ihr in meinem Tempo. Kurz darauf halfen wir uns gegenseitig über das Geländer der Feuertreppe. Jetzt galt es, noch fünfzig vereiste Metallstufen zu meistern. Auf der Plattform im ersten Stock rutschte Keira aus und fiel der Länge nach hin. Fluchend zog sie sich am Geländer hoch. Der Mann vom Reinigungspersonal, der den großen Flur der Akademie wienerte, traute seinen Augen nicht, als er uns auf der anderen Seite des Fensters vorbeilaufen sah. Ich winkte ihm beruhigend zu und half Keira auf. Der letzte Teil der Treppe bestand aus einer bis zum Bürgersteig ausziehbaren Leiter. Keira entfernte die Ketten, die die Halterung sicherten, doch der Mechanismus war vereist, und wir saßen drei Meter über dem Boden fest - viel zu hoch, um an Springen auch nur zu denken. Mir fiel ein Schulkamerad ein, dessen Fluchtversuch aus dem ersten Stock mit gleich zwei gebrochenen Schienbeinen endete. Diese flüchtige Erinnerung bewahrte mich vor der Versuchung, mich
für James Bond oder sein Double zu halten. Mit der Faust versuchte ich, das Eis abzuschlagen, das die Leiter blockierte. Keira hopste mit beiden Füßen auf der obersten Sprosse herum und schrie: »Willst du Mistding wohl aufgehen!« Das half. Plötzlich gab das Eis nach, und ich sah, wie Keira, die sich an den Sprossen festklammerte, in rasantem Tempo samt Leiter nach unten sauste.
    Schimpfend rappelte sie sich vom Bürgersteig auf. Oben am Fenster tauchte unser Gastgeber auf, der ebenfalls wütend schien. Als ich bei Keira angelangt war, rannten wir wie zwei Diebe zum hundert Meter entfernten U-Bahn-Eingang. Wir liefen durch die Unterführung und auf der anderen Straßenseite die Treppe wieder hinauf. In Moskau übernehmen viele Autobesitzer die Rolle des Taxifahrers, um ihr Gehalt aufzubessern. Man braucht nur die Hand zu heben, dann hält ein Wagen, und sofern es einem gelingt, sich auf einen Preis zu einigen, ist der Handel abgeschlossen. Für zwanzig Dollar war der Fahrer eines Zil bereit, uns mitzunehmen.
    Ich testete seine Englischkenntnisse, indem ich ihm sagte, in seiner Limousine stinke es nach Ziege, er sehe haargenau so aus wie mein Großvater und mit seinen Wurstfingern in der Nase zu bohren, dürfte nicht so einfach sein. Nachdem er dreimal mit »Da« geantwortet hatte, schloss ich daraus, dass ich mich in aller Ruhe mit Keira unterhalten konnte.
    »Was machen wir jetzt?«, fragte ich.
    »Wir holen unsere Sachen aus dem Hotel und versuchen, einen Zug zu erwischen, ehe die Polizei uns

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