Die erste Nacht - Roman
Adrian!«
»Hat er sich nach mir erkundigt?«
»Er hat mich belogen. Ich habe ihm ohne Umschweife die Frage gestellt, und er hat mir geschworen, Ivory nicht zu kennen. Doch ich spüre genau, dass er nicht die Wahrheit gesagt hat.«
Egorov begab sich in seine Bibliothek und kam mit einem großen Buch zurück.
»Wenn ich Sie richtig verstehe«, sagte er, »dann hat Sie der alte Professor an einen Freund verwiesen, welcher Sie dann wiederum an mich verwiesen hat. Und zufällig hat selbiger Ivory vor dreißig Jahren versucht, diesen Stein zu erwerben, der sich in meinem Besitz befindet, und Ihnen eine Übertragung des eingeritzten sumerischen Textes zukommen lassen. All das ist natürlich reiner Zufall …«
»Was wollen Sie damit andeuten?«, fragte ich.
»Dass Sie zwei Marionetten sind, derer sich Ivory nach Belieben bedient. Er lässt Sie von Nord nach Süd, von Ost nach West reisen, wie es ihm gerade passt. Wenn Sie noch nicht begriffen haben, dass er Sie für seine Zwecke ausnutzt, dann sind Sie noch dümmer, als ich zunächst angenommen habe.«
»Ich glaube, wir haben verstanden, dass Sie uns für zwei Idioten halten, Sie haben es ziemlich deutlich gemacht. Aber warum sollte Ivory das tun? Was hätte er davon?«, zischte Keira.
»Ich weiß ja nicht, was genau Sie suchen. Doch das Ergebnis muss ihn im höchsten Maße interessieren. Sie scheinen ein Werk vollenden zu sollen, das er selbst nicht hat abschließen
können. Nun, man muss nicht besonders intelligent sein, um zu begreifen, dass er Sie für seine Zwecke arbeiten lässt, ohne dass Sie sich dessen bewusst sind.«
Egorov schlug das große Buch auf und entfaltete eine alte Asienkarte.
»Der Beweis, den Sie zu finden hoffen«, fuhr er fort, »ist hier. Es ist der Stein mit dem sumerischen Text. Ihr Ivory hoffte, ich hätte ihn noch, und hat alles so arrangiert, dass Sie bis zu mir vordringen.«
Egorov hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt und bat uns, ihm gegenüber in den großen Sesseln Platz zu nehmen.
»Die archäologischen Recherchen in Sibirien begannen erst im achtzehnten Jahrhundert auf Initiative Peters des Großen. Bis dahin hatten die Russen kein Interesse an ihrer eigenen Vergangenheit gezeigt. Als ich den sibirischen Zweig der Akademie leitete, habe ich alles getan, um die Behörden zu überzeugen, diese kostbaren Schätze zu retten. Ich bin nicht der üble Schwarzhändler, für den Sie mich halten. Gewiss, ich hatte meine Netzwerke, doch dadurch konnten Tausende von Stücken gerettet und mindestens ebenso viele restauriert werden, die ohne mein Eingreifen dem Verfall preisgegeben gewesen wären. Glauben Sie, dieser sumerische Stein würde noch existieren, wäre ich nicht da gewesen? Sicher hätte er, wie tausend andere, dazu gedient, eine Kasernenmauer zu reparieren oder einen Weg aufzuschütten. Ich will nicht behaupten, dass ich mir bei diesem kleinen Handel nicht auch gewisse Vorteile verschafft habe, doch ich habe immer verantwortungsvoll gehandelt. Ich habe die Schätze meiner sibirischen Heimat nicht an irgendwen verkauft. Gut, aber auf alle Fälle hat Sie Ihr Professor nicht umsonst hergeschickt. Mehr als irgendjemand sonst in ganz Russland habe ich mich mit der Zivilisation der Sumerer beschäftigt und war immer schon überzeugt, dass sie weiter
gereist sind als angenommen. Doch meine Theorien fanden keine Beachtung, ich wurde als Spinner und Ignorant abgetan. Das Artefakt, das Sie suchen und das attestiert, dass Ihre Nomaden den hohen Norden erreicht haben, befindet sich vor Ihren Augen. Und wissen Sie, von wann der eingravierte Text stammt? Aus dem Jahr 4004. Überzeugen Sie sich selbst«, sagte er und deutete auf eine Zeile, deren Schrift kleiner war als die der anderen oben auf dem Stein. »Das ist eine formelle Datierung. Könnten Sie mir jetzt die Gründe erklären, warum sie Ihrer Meinung nach versucht haben, den amerikanischen Kontinent zu erreichen? Denn ich nehme an, Sie sind hier, weil sie Ihnen bekannt sind.«
»Ich sagte Ihnen bereits, es ging darum, eine Nachricht zu überbringen.«
»Danke, ich bin nicht taub, aber welche Nachricht?«
»Das weiß ich nicht, aber sie war an die Magistraten der alten Kolonien gerichtet.«
»Und Sie glauben, Ihre Boten haben ihr Ziel erreicht?«
Keira beugte sich über die Karte, deutete auf die schmale Passage der Beringstraße, dann glitt ihr Zeigefinger die sibirische Küste entlang.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie leise. »Genau deshalb muss ich unbedingt ihrer Spur
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