Die erste Todsuende
ausgesagt hatte, ihrer Meinung nach sei das einzige, was in der Brieftasche ihres Mannes fehlte, ein bestimmter Firmenausweis.
Kunde der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, bei der Bernard Gilbert angestellt gewesen war, war auch ein Fabrikant auf Long Island gewesen, der Geheimaufträge für die Regierung ausführte. Beim Betreten der Fabrik mußte Bernard Gilbert einen von der Firma ausgestellten Lichtbildausweis vorzeigen. Dieser Ausweis fehlte.
Bis zur Stunde war weder in Radio und Fernsehen noch in der Presse der Verdacht aufgetaucht, daß es einen Zusammenhang zwischen dem Mord an Lombard und dem an Gilbert gäbe. Von dem Überfall auf Gilbert war nur in ein paar Zeilen im Innenteil der Zeitungen berichtet worden: ein Verbrechen wie so viele. Delaney überlegte kurz, ob er Handry einen Tip geben solle, ließ es dann aber sein. Er würde es früh genug erfahren, und je weniger Pauley unter dem Druck von sensationellen Schlagzeilen stand, überflüssigen Telefonanrufen, falschen Geständnissen und den beiden Mordfällen nachgeahmten Verbrechen, desto besser.
Am meisten beschäftigte Captain Delaney die Frage, wie er zeitlich am besten vorgehen sollte. Er wollte einerseits unbedingt mit dem Lesen der offiziellen Berichte über den Fall Lombard auf dem laufenden bleiben, andererseits war ihm sehr daran gelegen, Monica Gilbert persönlich einige Fragen zu stellen. Außerdem mußte er Calvin Case, den verunglückten Bergsteiger, aufsuchen und sich von ihm alles Wissenswerte über Eispickel erzählen lassen. Er hätte sich auch gern vergewissert, wie Christopher Langley vorankam, ohne bei dem liebenswerten alten Mann den Eindruck zu erwecken, er, Delaney, verließe sich ausschließlich auf ihn. Und er mußte auch noch - und das kam zuerst - Barbara jeden Tag zweimal im Krankenhaus besuchen.
An den beiden Tagen nach dem Überfall, während Bernard Gilbert zwischen Leben und Tod schwebte, überlegte Delaney, wie er am besten an Monica Gilbert herankommen könnte, und kam dann zu dem Schluß, daß es das einfachste sei, sie anzurufen, ihr seinen Namen zu nennen und sie um eine Unterredung zu bitten. Sollte die Wohnung überwacht und er von Broughtons Leuten erkannt werden, konnte er die gleiche Ausrede vorbringen, die er sich schon für den Besuch bei Frank Lombards Witwe zurechtgelegt hatte: daß er als ehemaliger Leiter des 251. Reviers gekommen sei, um ihr sein Beileid auszusprechen.
Es klappte — bis zu einem gewissen Grade. Er rief an, nannte sein Anliegen, und sie war damit einverstanden, daß er nachmittags um vier zu ihr nach Hause kam.
Als er zur verabredeten Zeit hinging, stand tatsächlich ein unauffälliges Polizeiauto vor dem Haus, und einer der Männer kurbelte die Scheibe herunter, winkte und rief: „Hallo, Captain!" Er winkte zurück, obwohl er den Mann nicht kannte.
Monica Gilbert war eine kräftige, hübsche Frau mit einer Fülle von Haar; sie trug ein gerade geschnittenes, dunkles Kleid, das ihre stattlichen Formen nicht ganz verbergen konnte. Sie hatte eine Kanne Tee aufgebrüht, und er nahm dankbar eine Tasse an. Zwei kleine Mädchen waren noch im Zimmer, die sich schüchtern hinter dem Rock der Mutter versteckt hielten: die beiden Töchter Mary und Sylvia. Nach einer Weile liefen sie kichernd aus dem Zimmer.
„Milch?" fragte sie. „Zucker?"
„Nein, vielen Dank. Ich trinke ihn so. Wie geht es Ihrem Mann?"
„Unverändert. Liegt noch immer im Koma. Die Ärzte haben nicht viel Hoffnung."
All das sagte sie mit farbloser, eintöniger Stimme, blinzelte nicht ein einziges Mal, sah ihn aber auch nicht an. Er bewunderte ihre Selbstbeherrschung, denn er wußte, was es sie kostete.
Sie trug das dichte schwarze, leicht fettige Haar straff aus der breiten, glatten Stirn zurückgekämmt; es fiel ihr fast bis auf die Schultern. Ihre großen Augen schienen blaugrau zu sein und waren das Bemerkenswerteste an ihr. Die Nase war lang, aber wohlproportioniert. Alles an ihr war groß und stattlich, das heißt weniger groß als ausgeprägt. Sie trug kein Make-up und zupfte sich auch nicht ihre buschigen Augenbrauen. Sie war ganz und gar Frau, zu dem Schluß kam er, aber er wußte instinktiv, daß sie auf leise Worte und Behutsamkeit reagieren würde.
„Mrs. Gilbert", sagte er sanft und beugte sich vor, „es handelt sich in meinem Fall um einen ganz inoffiziellen Besuch. Ich bin zur Zeit beurlaubt, doch ich war viele Jahre lang der Leiter dieses Polizeireviers, und ich möchte Ihnen persönlich mein
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