Die erste Todsuende
Türsummer schnurrte. Hastig griff er nach dem Knauf, öffnete die Tür und stieg eine läuferbedeckte Treppe hinauf. An der Tür zum Apartment 3-B war wieder eine Klingel. Er drückte auf den Knopf, und wieder mußte er für seine Begriffe ungewöhnlich lange warten. Ein Summton ertönte. Der Captain erschrak und tat nichts. Normalerweise wurde, wenn man klingelte, dem Besucher die Wohnungstür von innen aufgemacht. Doch hier ertönte nur der Schnurrer.
Dann fiel ihm ein, daß der Mann Invalide war, und er verfluchte sich, daß er daran nicht gedacht hatte. Er stieß die Tür auf und trat in die Diele einer kleinen, unaufgeräumten Wohnung. Delaney schloß die Tür fest hinter sich und hörte das elektrische Schloß einklicken.
„Mr. Case?" rief er.
„Hier drinnen." Die Stimme klang barsch, beinahe krächzend.
Der Captain ging durch ein unordentliches Wohnzimmer. Jemand schlief hier auf einer Bettcouch. Einige Anzeichen deuteten auf eine Frau hin: ein nachlässig hingeworfenes Nachthemd, auf einem Beistelltisch eine Puderdose und ein Make-up-Täschchen. Zigarettenkippen mit Lippenstiftspuren, hingefeuerte Hefte von Vogue und Bride. Doch auf der Fensterbank standen auch ein paar Blumentöpfe und eine hohe Zinnvase mit frischen Rhododendronzweigen. Jemand war offensichtlich bemüht, das Beste zu tun, Delaney stelzte auf eine offene Tür zu, die in den hinteren Teil der Wohnung führte. Merkwürdigerweise war im Türrahmen ein Zugrollo angebracht. Man konnte es wahrscheinlich, so nahm Delaney an, bis zum Boden herunterziehen, also das Licht abschirmen und für sich allein sein, war aber nicht von allen Geräuschen abgetrennt wie bei einer Tür. Und selbstverständlich konnte man nicht abschließen.
Er kroch unter dem halb herabgezogenen Rollo hindurch und sah sich im Schlafzimmer um. Schmutzige Fenster, fadenscheinige Vorhänge, abblätternde Farbe an der Decke, eine schmuddelige, billige Bettvorlage, zwei gute Eichenkommoden mit teilweise offenstehenden Schubladen, auf dem Boden achtlos hingeworfene Zeitungen und Illustrierte. An der Wand gegenüber dem Bett ein auffallend großer Fleck, der aussah, als ob jemand eine volle Flasche dagegen geschmettert hätte.
Der Geruch war... Nun ja. Abgestandener Whisky, muffiges Bettzeug, ungewaschener Körper. Urin und Kot. In einem gußeisernen Pfännchen brannte von einem winzigen Hütchen Weihrauch ab, was alles noch schlimmer machte. Der ganze Raum schwärte vor Fäulnis. Delaney hatte wie jeder Polizeibeamte schon unerträgliche Gerüche erlebt, doch das machte die Sache nicht leichter. Er atmete durch den Mund und wandte sich dem Mann auf dem Bett zu.
Es war ein riesiges Bett, in dem früher vermutlich das Ehepaar geschlafen hatte. Das Bett war umgeben von kleinen Tischen und Stühlen, Zeitschriftenablagen, einem Telefonständer und einem Teewagen mit Flaschen und Eiskübel darauf; auf dem Boden ein Stechbecken und eine Urinflasche aus Kunststoff. Papiertaschentücher, ein halb gegessenes Sandwich, ein nasses Handtuch, Zigaretten- und Zigarrenkippen, ein Taschenbuch, aus dem wütend ganze Seiten herausgerissen worden waren, ein auseinandergebogenes, teilweise zerfleddertes gebundenes Buch, ein zerbrochenes Glas und... und noch alles mögliche.
„Was, zum Teufel, wollen Sie?"
Er blickte den Mann im Bett an.
Das schmuddelige Laken - von einem überraschenden Blau - war bis ans Kinn heraufgezogen. Alles, was Delaney sah, war ein eckiges Gesicht, ein eckiger Kopf. Ungekämmtes Haar hing dem Mann fast bis auf die Schultern. Der rötliche Schnurrbart und der Kinnbart waren zottig und ungepflegt. Dunkle Augen brannten. Die vollen Lippen waren verfärbt und krustig.
„Calvin Case?"
„ Yeah."
„Captain Edward X. Delaney von der New Yorker Polizei. Ich bin dabei, den Tod, beziehungsweise die Ermordung eines Mannes zu untersuchen, von dem wir annehmen..."
„Lassen Sie mal Ihre Dienstmarke sehen."
Delaney trat näher ans Bett heran. Der Gestank war ekelerregend. Er hielt Case die Dienstmarke dicht vor die Augen, doch der warf kaum einen Blick darauf. Delaney trat zurück. „Wir nehmen an, daß dieser Mann mit einem Eispickel erschlagen wurde, wie Bergsteiger ihn benutzen. Und deshalb kam ich..."
„Glauben Sie etwa, ich war's?"
„Nein, natürlich nicht. Aber ich brauche ein paar Auskünfte über Eispickel, und da man mir gesagt hat, Sie seien der beste Bergsteiger, dachte ich, Sie würden mir vielleicht..."
„Zieh'n Sie Leine!" sagte Calvin Case verdrossen
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