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Die erste Todsuende

Die erste Todsuende

Titel: Die erste Todsuende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Sanders
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ging nochmals jeden einzelnen Punkt durch. Keine einzige seiner Mutmaßungen war durch das, was Thorsen ihm erzählt hatte, widerlegt worden - im Gegenteil. Eine Wunde hoch oben am Kopf eines kleinen Mannes wies ohne Zweifel auf einen hochgewachsenen Angreifer hin. Doch warum von vorn, wenn, wie bei Lombard, der Angriff von hinten so erfolgreich verlaufen war? Hatte Gilbert den Schlag nicht kommen sehen, ihm nicht ausweichen oder ihn mit dem Arm abwehren können? Ein Rätsel.
    Er war nahe daran, für heute nacht aufzugeben, und spielte mit dem Gedanken, vor Morgengrauen doch noch ein paar Stunden zu schlafen, da klingelte wieder das Telefon.
    „Captain Edward X. Delaney."
    „Hier Ferguson. Ich bin hundemüde, ich will so schnell wie möglich ins Bett. Ich rassele also jetzt alles rasch herunter. Unterbrechen Sie mich nicht!"
    „Tu ich nicht."
    „War bereits die erste Unterbrechung. Bernard Gilbert. Weißer. Um die vierzig. 1,65 bis 1,70 m. Knapp siebzig Kilo. Das rein Medizinische überspringe ich. Kein Zweifel: Die Wunde ähnelt der von Lombard. Befindet sich etwa fünf Zentimeter oberhalb des normalen Haaransatzes. Allerdings ist der Mann fast kahl. Womit auch Ihre Frage nach dem Haaröl beantwortet wäre."
    „Aber nein, keineswegs! Das könnte meinen Verdacht nur erhärten."
    „Darauf kann ich jetzt nicht eingehen. Wundkanal zehn bis zwölf Zentimeter tief. Leicht abwärts gebogen. Der Mann liegt im Koma. Leidet an Paralyse. Prognose: aussichtslos. Sonst noch Fragen?"
    „Wie lange, meinen Sie, macht er's noch?"
    „Höchstens eine Woche. Sein Herz ist nicht besonders kräftig."
    „Wird er das Bewußtsein noch einmal wiedererlangen?"
    „Kaum."
    Delaney spürte, daß Fergusons Geduldsfaden zu reißen drohte.
    „Vielen Dank, Doktor. Sie haben mir sehr geholfen. Nur einen Augenblick noch."
    „Ich weiß", sagte Ferguson und seufzte ergeben. „'Nur noch eins'."
    „Sie denken doch an die Autopsie?"
    Flüche, derbe, saftige Flüche waren Fergusons Antwort. Behutsam legte Delaney auf und lächelte. Er ging zu Bett, konnte jedoch nicht gleich einschlafen.
    Und das war etwas, das er ebensosehr haßte wie liebte: haßte, weil es sein Denken in Bewegung hielt und ihn daran hinderte einzuschlafen; und liebte, weil es eine Herausforderung darstellte: Wie viele Orangen konnte er wie ein Jongleur in die Luft werfen und wieder auffangen?

    Alle schwierigen Fälle erreichten irgendwann dieses Maß an Komplexität: Waffe, Methode, Tatmotiv, der mutmaßliche Täter, Alibi, Zeitpunkt. Und mit all diesen Dingen mußte er jonglieren, mußte sie auffangen, hochwerfen, sie dabei keine Sekunde aus den Augen lassen und doch ganz entspannt sein und lachen.
    Er hatte die Erfahrung gemacht, daß bei allen schwierigen, komplizierten Ermittlungen einmal der Zeitpunkt kam, wo er daran zweifelte, alle Fäden in der Hand, alle Verwicklungen im Gedächtnis behalten zu können - daß, wenn er an diesem Punkt, wo die Verwirrung nahezu vollständig war, nur durchhielt und mehr und immer mehr in sich aufnahm, die Dinge irgendwann wieder in Bewegung gerieten und er allmählich erkannte, wie eines sich zum anderen fügte.
    Im Augenblick war alles festgefahren, ein einziges Durcheinander. Doch allmählich bemerkte er entscheidende Hindernisse, die beseitigt werden mußten. Dann würde plötzlich alles in Bewegung kommen. Deshalb machte er sich über die augenblickliche Verworrenheit keine Sorgen: Jede Schlinge, die jemand legte, ließ sich von jemand, der besser war, aufknüpfen. Er mußte zugeben, daß das eine dumme, arrogante Überzeugung war, aber wenn er sich daran nicht hielt, hatte er wirklich den falschen Beruf ergriffen.

26
    Vier Tage später starb Bernard Gilbert, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Pauley war inzwischen zu Delaneys Genugtuung zu der begründeten Überzeugung gelangt, daß zwischen Lombard und Gilbert keinerlei Beziehung bestand — außer der Art des Verbrechens. Und so leitete er all die Dinge in die Wege, die Captain Delaney vorausgesagt hatte: Er ließ alle kürzlich entlassenen Patienten sowie alle Kriminellen, die in den Akten als geistesschwach eingestuft waren, überprüfen, ordnete den Einsatz von Lockvögeln an.
    Delaney erfuhr das alles aus den Kopien der offiziellen Polizeiberichte, die er durch Thorsen erhielt. Er befaßte sich sehr eingehend damit, las sie mehrmals durch und erfuhr auf diese Weise Einzelheiten über Bernard Gilbert, beispielsweise, daß die Frau des Opfers, Monica Gilbert,

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