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Die erste Todsuende

Die erste Todsuende

Titel: Die erste Todsuende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Sanders
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bißchen kühler.
    Er setzte die Brille auf und sah nach, was es hier sonst noch gab. Vor allem Pappkartons, vollgestopft mit Ordnern und Papieren. Des weiteren Holzkisten, die randvoll schienen mit Beweismaterial von längst vergessenen Fällen: ein gestrickter Fäustling, den die Motten zerfressen hatten; ein verrostetes Hackmesser mit abgebrochenem Griff; das fleckige Oberteil eines künstlichen Gebisses; eine Stoffpuppe; eine Damenhandtasche aus Lackleder: gähnend leer; ein zerbrochener Krückstock; ein weicher Herrenfilzhut mit einem Einschußloch; dicke versiegelte Umschläge mit handschriftlichen Inhaltsangaben; eine blutbefleckte Perücke; ein mit einem Messer aufgeschlitztes Korsett.
    Schließlich fand er, wonach er suchte: zwei Stapel von relativ neuen Pappkartons mit Papieren der Kriminalabteilung. In jedem Karton lagen in alphabetischer Reihenfolge Aktendeckel, aber da die Kartons selbst nicht ordentlich gestapelt waren, brauchte Delaney fast eine ganze Stunde, bis er Ordnung geschaffen hatte. Es war schon nach zwölf, als er sich endlich auf eine der Holzkisten setzte und ein Sandwich aß und die halbe Thermosflasche Kaffee dazu leerte.
    Dann holte er die von Monica angefertigte Namensliste hervor und machte sich an die Arbeit. Er empfand keinerlei Freude, als er den ersten Aktendeckel aufschlug und einen Namen fand, der auch auf seiner Liste stand. Die Adresse stimmte. Er legte die Akte beiseite und fuhr in seiner Suche fort.
    Als er mit dem letzten Aktendeckel im letzten Karton fertig war, war es fast sieben Uhr abends. Er hatte längst sein zweites Sandwich gegessen und den Kaffee ausgetrunken. Aber er verspürte keinen Hunger, nur Durst. Seine Nasenlöcher und seine Kehle schienen verstopft vom Staub, doch der Heizkörper hatte keinen Augenblick aufgehört zu rumoren und zu zischen, und sein Hemd klebte ihm auf dem Körper.
    Sorgsam packte er drei Aktendeckel zusammen - drei von den Personen auf Monicas Liste waren in Fälle von „Straßenjustiz" verwickelt gewesen. Er steckte die Akten in seine Mappe, ebenso die leere Thermosflasche und das Pergamentpapier, in das die Sandwiches eingewickelt gewesen waren, zog Jacke und Mantel an, setzte den Hut auf und sah sich noch einmal um. Falls er dieses Revier jemals wieder übernehmen sollte, würde er als erstes hier aufräumen lassen.
    Delaney stieg die altersschwache Treppe hinauf und stellte verwundert fest, daß ihm die Knie vor Müdigkeit zitterten. Lieutenant Dorfman stand am Ausgang und unterhielt sich mit einem Zivilisten, den Delaney nicht kannte. Der Captain nickte lächelnd beim Hinausgehen. Dorfman erwiderte den Gruß, ohne sein Gespräch zu unterbrechen.
    Er beschloß, ehe er sich an die Durchsicht der gefundenen Akten machte, Barbara anzurufen. Doch als er sie am Apparat hatte, merkte er, daß sie nicht ganz bei sich war. Vielleicht war es die Müdigkeit oder ein Medikament, vielleicht aber auch die Krankheit -er wußte es nicht. Sie wiederholte nur immer seinen Namen. Lachend: „Edward!" Fragend: „Edward?" Fordernd: „Edward!" Liebevoll: „Edward!"
    Schließlich sagte er „Gute Nacht, Liebes", legte auf, holte tief Luft und bemühte sich, nicht zu weinen. Mechanisch machte er sich in seinem Arbeitszimmer einen starken Whisky-Soda zurecht, dann holte er die drei Aktendeckel aus der Mappe und legte sie auf den Schreibtisch; sie waren staubig, und er wischte sie mit einem Stück Papier ab. Dann wusch er sich die Hände, nahm Platz und setzte die Brille auf. Und dann saß er einfach da, trank langsam seinen Whisky-Soda und starrte die Aktendeckel an. Endlich lehnte er sich vor und fing an zu lesen.

    Der erste Fall war amüsant. Ein Mann namens Timothy J. Lester war festgenommen worden, nachdem er eine leere Mülltonne durch das Schaufenster eines Geschäfts auf der Madison Avenue geworfen hatte. Es war ein Laden für Umstandskleidung, und er nannte sich sinnigerweise „Ich erwarte ein Kind". Mr. Lester, obwohl erst vierunddreißig, war Vater von sieben Kindern und hatte an eben diesem Abend erfahren, daß es bald acht sein würden. Stehenden Fußes war er in eine benachbarte Kneipe geeilt, um das Ereignis zu feiern; das hatte er wohl sehr ausgiebig getan, denn auf dem Nachhauseweg war er stehengeblieben und hatte die Mülltonne in das Schaufenster von „Ich erwarte ein Kind" geworfen. Da Lester „offenbar ein beispielhafter Familienvater" war, eine gute Stellung als Schriftsetzer hatte und versprach, die zertrümmerte Scheibe zu

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