Die erste Todsuende
ersetzen, hatte der Beamte gefunden, der Gerechtigkeit wäre am besten damit gedient, wenn man Mr. Lester erlaube, den angerichteten Schaden zu ersetzen, und von einer Anklage absehe.
Captain Edward X. Delaney stimmte diesem Urteil voll und ganz zu.
Die zweite Akte war dünn und traurig. Es ging um eine der wenigen Frauen, die auf Monica Gilberts Liste standen. Sie war achtunddreißig Jahre alt und lebte in einem eleganten Apartment in der 2nd Avenue nahe der 85th Street. Sie hatte sich eine Untermieterin genommen, eine junge Frau von zweiundzwanzig. Ein ganzes Jahr lang war alles offenbar gutgegangen. Dann lernte die Jüngere einen Mann kennen, verlobte sich, verkündete diese Neuigkeit ihrer Mitbewohnerin und nahm deren Glückwünsche entgegen. Als sie am nächsten Abend nach Hause kam, hatte die ältere Frau alle ihre Kleider mit einer Rasierklinge zerfetzt und alle ihre persönlichen Habseligkeiten kurz und klein geschlagen. Sie rief die Polizei. Doch nachdem sie sich mit ihrem Verlobten beraten hatte, ließ sie die Anzeige fallen, zog aus, und damit war der Fall abgeschlossen.
Beim dritten Aktendeckel, der dicker war, handelte es sich um Daniel G. Blank, geschieden, alleinstehend, wohnhaft East 83rd Street. Er war in zwei voneinander unabhängige Fälle verwickelt, die etwa sechs Monate auseinanderlagen. Im ersten war er angezeigt worden, weil er einen Mitbewohner, der offenbar seinen Hund mißhandelt hatte, tätlich angegriffen hatte. Blank war dazwischengefahren, und der Hundebesitzer hatte sich dabei einen Arm gebrochen. Es war ein Zeuge vorhanden, Charles Lipsky, Pförtner, der eine Erklärung unterschrieben hatte, derzufolge Blank mit einer zusammengelegten Zeitung geschlagen worden war, ehe er dem anderen einen Stoß versetzt hatte. Der Mann war vom Rinnstein abgerutscht, gefallen und hatte sich dabei den Arm gebrochen. Die Anzeige war schließlich zurückgenommen worden.
Der zweite Zwischenfall war ernsterer Natur. Blank war in einer Bar gewesen, Zum Papagei auf der 3rd Avenue, wo er nach Aussagen von Augenzeugen in aufdringlicher Weise von einem Homosexuellen mittleren Alters angesprochen worden war. Laut Zeugenaussage hatte Blank daraufhin den Mann zweimal geschlagen und ihm mit dem zweiten Schlag die Kinnlade gebrochen. Während der Mann hilflos am Boden lag, hatte Blank ihn wiederholt in die Lenden getreten, bis er weggezerrt und die Polizei gerufen wurde. Der Homosexuelle weigerte sich, die Anzeige zu unterschreiben. Blanks Anwalt war gekommen, und der Verletzte hatte offenbar zugestimmt, daß Blank freigelassen wurde.
Beide Fälle waren von Ronald A. Blankenship bearbeitet worden. Seine Ausdrucksweise war klar und präzise, aber völlig farblos, reiner Behördenstil, und ließ keinerlei persönliches Urteil erkennen.
Delaney las die Akte langsam durch, dann ein zweites Mal. Er stand auf, um sich einen neuen Whisky-Soda zurechtzumachen, und las die Akte noch ein drittes Mal. Er nahm die Brille ab und ging in seinem kalten Arbeitszimmer auf und ab, trug das Glas in der Hand und nahm gelegentlich einen Schluck. Ein- oder zweimal trat er hinter seinen Schreibtisch, um den Aktendeckel mit der Aufschrift „Daniel G. Blank" anzustarren, doch er nahm ihn nicht nochmals in die Hand.
Der springende Punkt beim zweiten Zwischenfall war die rohe Gewalttätigkeit, die Blank gezeigt hatte. Ein normaler Mann hätte die Annäherungsversuche des Homosexuellen wahrscheinlich lediglich mit einem Lächeln quittiert und den Kopf geschüttelt, wäre vielleicht an der Bar ein paar Hocker weitergerückt oder hätte unter Umständen das Lokal verlassen. Das brutale Vorgehen von Blank war übertrieben.
Der erste Zwischenfall — mit dem Hundebesitzer - war möglicherweise gar nicht so harmlos, wie er sich in Blankenships Bericht ausnahm. Es stimmte, daß der Zeuge — wie hieß er noch? Delaney sah nach: Charles Lipsky - ausgesagt hatte, Blank habe zuerst einen Schlag bekommen, mit einer zusammengelegten Zeitung, ehe er seinem Angreifer einen Stoß versetzt hätte. Aber Zeugen kann man kaufen, das kam alle Tage vor. Selbst wenn Lipsky die Wahrheit gesagt hatte, so war Delaney überrascht, wie gut der Zwischenfall in das Verhaltensmuster paßte, das er aus Erfahrung kannte: Männer, die zu Gewalttätigkeiten neigten, Männer, die nur allzu schnell bereit waren, ihre Fäuste zu gebrauchen, gerieten irgendwie immer wieder in Situationen, für die sie offensichtlich nichts konnten und bei denen der Gegenspieler nur
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