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Die erste Todsuende

Die erste Todsuende

Titel: Die erste Todsuende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Sanders
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Erbostes.
    Es stellte sich heraus, daß die „Sonderkommission Lombard" das 251. Revier gewissermaßen als Hauptquartier benutzte. Der Stellvertretende Commissioner Broughton hatte sich in Lieutenant Dorfmans Büro breitgemacht; seine Leute saßen in den Büros im ersten Stock und in den kleinen Kämmerchen, in denen früher die Kriminalbeamten des Reviers gearbeitet hatten. Dorfmans Schreibtisch hatte man einfach in den Aufenthaltsraum der Sergeants gestellt.

    „Lieutenant, der Grund meines Anrufs ist folgender: Ich möchte morgen früh in den kleinen Abstellraum unten im Keller. Es liegen dort alte Akten von der Kriminalabteilung, die ich durchsehen möchte. Wahrscheinlich dauert es den ganzen Tag, und es könnte sein, daß ich einige Unterlagen brauche. Dazu möchte ich Ihre Erlaubnis haben."
    Es herrschte Schweigen, und Delaney glaubte schon, die Verbindung wäre unterbrochen.
    „Hallo? Hallo?" sagte er.
    „Ich bin noch dran", sagte Dorfman schließlich sehr leise. „Ja, Sie haben meine Erlaubnis. Vielen Dank, daß Sie mich zuerst angerufen haben, Captain. Das hätten Sie nicht zu tun brauchen."
    „Es ist Ihr Revier."
    „Das hat man mir schon mal gesagt. Captain..."
    „Was?"
    „Ich glaube, ich weiß, was Sie machen. Kommen Sie denn voran?"
    „Noch nichts Greifbares. Trotzdem. Ich komme voran."
    „Werden die Unterlagen helfen?"
    „Vielleicht."
    „Nehmen Sie, was Sie brauchen können."
    „Danke. Falls wir uns treffen sollten, nicken Sie bloß und gehen Sie weiter. Bleiben Sie nicht stehen, um sich mit mir zu unterhalten. Broughtons Leute brauchen nicht..."
    „Ich verstehe."
    „Dorfman..."
    „Ja, Captain?"
    „Hören Sie nicht auf, sich auf das Captain-Examen vorzubereiten!"
    „Mach ich. Vielen Dank."
    Als er am nächsten Morgen erwachte, nahm er sich fest vor, sich keine großen Hoffnungen zu machen, sondern in der Durchsicht der Akten nichts als einen logischen Schritt zu sehen, der getan werden mußte, ob nun etwas dabei herauskam oder nicht.
    Während Mary ihm seine Brote und seine Thermosflasche zurechtmachte, ging er ins Arbeitszimmer, um Barbara anzurufen und ihr zu sagen, daß es ihm heute leider nicht möglich sei, sie zu besuchen. Gott sei Dank war sie gerade in fröhlicher Stimmung, und als er ihr auseinandersetzte, was er vorhatte, fand sie das sofort richtig und nahm ihm das Versprechen ab, sie gleich nach Beendigung seines Unternehmens anzurufen und ihr zu berichten, was er gefunden hatte.

    Es machte keine Schwierigkeiten, in die Polizeiwache hineinzukommen. Der furchteinflößende blonde weibliche Sergeant saß über dem Protokollbuch. Sie lehnte sich über den Schreibtisch und redete mit einer weinenden Schwarzen. Dann sah sie auf, erkannte den Captain und winkte ihm leicht grüßend zu. Er winkte zurück und ging weiter, seine Aktenmappe wie ein Handelsvertreter in der Hand. Er stieg die ausgetretene Holztreppe hinunter und ging an den sechs Arrestzellen vorbei; vier waren belegt. Er blickte weder nach links noch nach rechts. Jemand flüsterte ihm etwas zu; jemand schrie. In der Ausnüchterungszelle lagen drei Männer. Es war nicht ihr Stöhnen, das ihm an die Nerven ging, sondern der Gestank. Er hatte schon fast vergessen, wie schlimm das war; Urin, Kot, Blut, Erbrochenes, Eiter — neunzig Jahre menschlicher Qual, die in Boden und Wände eingesickert waren. Und durch dieses Miasma hindurch der durchdringende Karbolgeruch, der seine Nasenschleimhäute reizte und ihm die Tränen in die Augen trieb.
    Der Abstellraum war verschlossen, und es kostete ihn fast fünf Minuten, ehe er den richtigen Schlüssel an dem großen Schlüsselbund fand. Er stieß die Tür auf, fand den Schalter an der Wand, knipste die Deckenbeleuchtung ein, machte die Tür hinter sich zu und sah sich um. Es war so schlimm, wie er befürchtet hatte.
    Die Polizeiwache war 1882 in Dienst genommen worden, und als Delaney sich jetzt in dem Raum umblickte, hatte er den Eindruck, als werde hier jede Berichtsliste aus den letzten neunzig Jahren aufgehoben, ohne daß ein Mensch einen Blick hineinwarf. Sie waren bis zur Decke gestapelt.
    Er zog den Mantel aus und legte Hut und Jacke auf die am wenigsten verstaubte Kiste, die er finden konnte. Der fensterlose Raum wurde durch einen einzigen Heizkörper erwärmt, in dem es ständig rumorte und aus dessen Ventil leise zischend Dampf und Wasser entwichen. Delaney machte die Tür einen Spaltbreit auf. Zwar war die hereinströmende Luft karbolgeschwängert, dafür aber ein

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