Die erste Todsuende
gerufen hatte.
Er sah auf die Uhr; sie zeigte 11 Uhr 43. Aber er wußte, daß das nicht stimmen konnte — die Sonne ging gerade auf. Er blickte noch einmal genauer hin und sah, daß die Uhr stehengeblieben war; er hatte vergessen, sie aufzuziehen. Nun, er konnte sie jetzt aufziehen und sie ungefähr richtig stellen - aber die Zeit spielte gar keine Rolle. Er streifte das flexible goldene Gliederarmband vom Handgelenk und warf die Uhr über den Rand.
Er durchwühlte seinen Rucksack. Als er feststellte, daß er weder Sandwiches noch eine Thermosflasche mitgenommen hatte, störte ihn das nicht weiter. Es war nicht wichtig.
Er hatte in seinen Kleidern geschlafen und sich die Steigeisen unter die Rippen geschoben, damit er im Schlaf nicht von der Spitze herunterrollte. Jetzt raffte er sich zitternd hoch, spürte die Steifheit in Schultern und Hüften und stand in der Mitte des kleinen Felsplateaus, wo er von unten nicht gesehen werden konnte. Er machte einige Streckübungen, legte die Hände an die Hüften und beugte den Rumpf abwechselnd nach links und nach rechts, dann beugte er sich mit durchgedrückten Knien mehrmals vornüber, so daß seine Handflächen den kalten Stein berührten, schließlich lief er ungefähr fünf Minuten auf der Stelle.
Er mußte nach Atem ringen, als er aufhörte, und die Knie zitterten ihm. Er war wirklich nicht in Bestform, das mußte er zugeben, und er beschloß, täglich mindestens eine Stunde lang Streck- und Atemübungen zu machen. Doch dann hörte er wieder seinen Namen rufen. Auf dem Bauch liegend, kroch er vorsichtig an den Rand des Felsens.
Ja, sie riefen seinen Namen, forderten ihn auf hinunterzukommen, und versprachen, daß sie ihm nichts tun würden. Das interessierte ihn nicht; er war jedoch überrascht über das große Aufgebot von Menschen und Fahrzeugen dort unten. Als er senkrecht in die Tiefe blickte, sah er bewaffnete Männer im Kreis um den Teufelszahn gehen, doch ob sie die anderen vor ihm oder ihn vor den anderen schützen sollten, vermochte er nicht zu sagen, und es war ihm auch gleichgültig.
Er hatte das Bedürfnis zu urinieren und legte sich dazu auf die Seite, damit der Strahl über den Rand des Felsens hinausging. Es kam nicht sehr viel, und der Urin war nicht gelb, sondern, wie ihm schien, von einem milchigen Weiß. Er spürte einen Druck im Gedärm, aber die Schwierigkeiten, sich hier oben zu entleeren, waren so groß, daß er dem Drang widerstand, sich zurückrollte in die Mitte des Plateaus, dort auf dem Rücken lag und in die neue Sonne starrte.
Zu keiner Zeit hatte er bewußt erwogen oder den Entschluß gefaßt, hier oben zu bleiben, hier zu sterben. Das war etwas, das er nur instinktiv wußte und hinnahm. Nichts trieb ihn dazu; auch jetzt noch konnte er hinunterklettern, wenn er wollte. Aber er wollte nicht. Er war es zufrieden, hier oben zu sein, in einem Zustand fast schläfrigen Gleichmuts. Hier war er sicher; das war wichtig.
Wieder riefen sie seinen Namen. Ein unnatürlich lautes Dröhnen : „Daniel Blank... Daniel Blank..." Er wünschte, sie würden es nicht tun. Eine Sekunde lang war er versucht, hinunterzuschreien und ihnen zu sagen, sie sollten aufhören. Aber vermutlich würden sie sowieso nicht auf ihn hören. Das Unangenehme war ja auch nur, daß dieses Rufen ihn in seinen Träumereien störte, sich in seine Abgeschiedenheit drängte. Er genoß seine Einsamkeit, doch es hätte eine absolut stille Abgeschiedenheit sein sollen.
Er drehte sich auf den Bauch. Jetzt, wo die Sonne höher stieg, wurde ihm etwas wärmer. Dicht vor seinen Augen, ganz nahe, sah er das felsige Gestein, seine Beschaffenheit. Noch nie in all den Jahren hatte er das Gestein so wie jetzt betrachtet. Er sah durch die verwitterte Oberfläche hindurch bis tief ins Herz des Felsens hinein.
Er fiel in einen leichten Schlaf und erwachte wieder, als die laute, stählerne Stimme abermals rief: „Daniel Blank... Daniel Blank..." und ihn zwang, sich daran zu erinnern, wer er war.
Celia hatte ihre Gewißheit gefunden - was immer das war. Er glaubte, daß vermutlich jeder auf der Welt nach seiner eigenen Gewißheit suchte, sie vielleicht auch fand oder sich - enttäuscht -mit weniger zufriedengab. Was aber wichtig war, was wichtig war... Was war wichtig? Eben noch war es dagewesen, hatte er daran gedacht, doch dann war es plötzlich weg.
Unvermittelt krampften sich seine Eingeweide zusammen, durchfuhr ihn ein stechender Schmerz, so daß er sich kerzengerade aufsetzte und
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