Die erste Todsuende
pornographische Bilder betrachtete, sich schwierige Schachspiele ausdachte. Oder ob er Nietzsche las.
Die „großen Dinge", erklärte Delaney seinen Leuten - etwa der Beruf eines Menschen, seine Religion, die Art, wie er auf einer Cocktail-Party redete —, das sei die Fassade, die er aufrichte, um sich eine feindliche Welt vom Leib zu halten. Dahinter verborgen seien die lebenswichtigen Dinge. Pflicht eines Polizisten sei es, hinter die Fassade zu blicken und nach den zwanghaften Handlungen Ausschau zu halten.
„Der Doktor erwartet Sie." Die Schwester am Empfang lächelte ihm zu.
Delaney nickte, griff seinen Hut und ging ins Sprechzimmer hinüber. Die feindseligen Blicke der anderen Patienten, die offensichtlich länger gewartet hatten als er, beachtete er nicht.
Dr. Louis Bernardi erhob sich hinter seinem Schreibtisch und reichte ihm eine feiste, beringte Hand.
„Captain", begrüßte er ihn, „es ist mir immer ein Vergnügen."
„Doktor", sagte Delaney, „schön, Sie wiederzusehen. Gut sehen Sie aus."
Bernardi strich über die vorgewölbte graue Flanellweste und zerrte an den matten Silberknöpfen, von denen Barbara Delaney ihrem Mann gesagt hatte, der Arzt habe ihr verraten, es seien antike römische Münzen.
„Meine Frau bekocht mich eben zu gut." Bernardi zuckte mit den Achseln und lächelte. „Was soll ich dagegen machen? Hihi! Setzen Sie sich, setzen Sie sich! Ihre Frau zieht sich gerade an. Sie wird gleich mit Ihnen gehen können. Und wir haben Zeit für einen kleinen Schwatz."
Einen Schwatz? Für Delaneys Begriffe unterhielten Männer sich oder diskutierten miteinander. „Schwatz" - das war typisch Bernardi. Der Captain selbst ging immer zu einem Polizeiarzt. Bernardi war der Hausarzt seiner Frau, seit dreißig Jahren schon. Er hatte sie im Laufe von zwei gut verlaufenen Schwangerschaften betreut, hatte sie bei einem schweren Fall von Hepatitis behandelt, ihr vor zwei Monaten zu einer Gebärmutterentfernung geraten und sie nach der Operation gesund gepflegt.
Bernardi war ein kugelrunder, sehr sorgfältig rasierter Mann. Er war sanft und, wenn auch vielleicht nicht geradezu salbungsvoll, so doch sehr glatt. Sein schwarzer Seidenanzug hatte einen schönen Schimmer; seine Schuhe glänzten matt. Parfümiert war er zwar nicht, wohl aber verströmte er den Duft der Selbstzufriedenheit.
Im Widerspruch zu alledem standen die Augen des Mannes: Sie waren hart und glitzerten. Pfiffige kleine Quarzsplitter waren es. Sein Blick wurde nie unsicher; sein schweigend starrender Blick konnte eine Krankenschwester dazu bringen, daß sie in Tränen ausbrach.
Delaney mochte den Mann nicht. Zwar zweifelte er keinen Augenblick an Bernardis beruflichem Können, wohl aber mißtraute er der im tadellosen Anzug versteckten Leibesfülle, dem verstohlenen Lächeln und den langen, öligen Haarsträhnen, die er über die immer lichter werdende Platte strählte. Ganz besonders heftig erboste ihn das Lippenbärtchen des Arztes: ein dünner, sorgfältig beim Rasieren stehengelassener Strich, der wie mit einem Filzstift gezogen auf der Oberlippe stand.
Der Captain wußte, daß er Bernardi amüsierte, doch das machte ihm nichts aus. Er wußte, daß er viele Leute amüsierte,, Vorgesetzte bei der Polizei, Kollegen im selben Rang wie er, Polizeibeamte, die ihm unterstellt waren. Zeitungsreporter. Angestellte von Auskunfteien. Doktoren der Soziologie und der Kriminalpathologie. Alle machten sich über ihn lustig. Seine Frau und seine Kinder. Er machte sich da nichts vor. Aber Dr. Bernardi hatte sich bei Gelegenheit nicht einmal bemüht, seine Belustigung zu verbergen, und das konnte Delaney ihm nicht verzeihen.
„Ich hoffe, Sie haben eine gute Nachricht für mich, Doktor."
Bernardi spreizte die Finger in einer sanft abwehrenden Geste, wie ein Händler, den man bei einer betrügerischen Manipulation ertappt hat.
„Bedauerlicherweise habe ich das nicht, Captain. Ihre Frau hat nicht angesprochen auf die Antibiotika. Wie ich ihr schon sagte, habe ich zuerst auf eine leichte Infektion getippt, die allerdings hartnäckig sein und einige Zeit dauern könnte. Die Temperatur ist darauf zurückzuführen."
„Was für eine Infektion?"
Abermals die gleiche Geste: die Hände erhoben, die Finger gespreizt, die Handflächen nach außen gekehrt.
„Das weiß ich nicht. Die Untersuchungen haben nichts ergeben. Aus den Röntgenaufnahmen geht nichts hervor. Soweit ich feststellen kann, kein Tumor. Trotzdem aber offensichtlich eine
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