Die erste Todsuende
schwarzen Kaffee."
„Sehr gut." Sie nickte anerkennend. „Du hältst dich an deine Diät. Bitte versprich mir, daß du..." Unvermittelt hielt sie inne; Tränen stiegen in ihre Augen und rannen über ihre Wangen. „Ach, du lieber Gott", rief sie, „warum ausgerechnet ich?"
Sie richtete sich auf, ihn zu umarmen. Er hielt sie eng an sich gedrückt, ihr nasses Gesicht an seinem. Mit knubbeligen Fingern strich er ihr über den Rücken und wiederholte immer und immer wieder: „Ich liebe dich! Ich liebe dich! Ich liebe dich!" Es schien, als genüge es noch immer nicht.
Den Aktendeckel mit den medizinischen Gutachten unterm Arm kehrte er aufs Revier zurück. Sobald er an seinem Schreibtisch saß, rief er Dr. Sanford Ferguson an, konnte ihn jedoch nicht erreichen. Er versuchte es im Büro des Leichenbeschauers, im Leichenschauhaus und in Fergusons Privatpraxis. Niemand wußte, wo er war. Delaney hinterließ überall eine Nachricht.
Dann legte er die medizinischen Gutachten beiseite, räumte seinen Schreibtisch auf, warf noch einen bedauernden Blick auf die Vorgänge, die sich an diesem einen Tag angesammelt hatten und bis morgen warten mußten. Ehe er ging, sah er noch einmal in den Haftzellen und Mannschaftsräumen nach, in den Vernehmungsräumen und in den kleinen abgeteilten Büros der Detektive. Das Gebäude des 251. Reviers war fast neunzig Jahre alt. Es platzte aus allen Nähten, die Wände hatten Risse, und es roch darin wie in allen alten New Yorker Polizeiwachen. Bereits wiederholt war ein Neubau versprochen worden. Captain Delaney warf noch einen letzten Blick auf das Wachbuch des diensthabenden Sergeanten, ehe er nach nebenan zu sich nach Hause ging.
Womöglich noch älter als die Polizeiwache, war dieses Haus ursprünglich als Stadthaus eines Kaufmanns gebaut worden. Im Laufe der Jahre kam es immer mehr herunter und war, als Delaney es mit dem väterlichen Erbe kaufte (28000 Dollar), eine Herberge mit möblierten Zimmern. Delaney überzeugte sich davon, daß es in seiner Grundstruktur noch gesund war, und Barbaras flinke Augen entdeckten die alten Marmorkamine und Walnußtäfelungen (die überstrichen waren, jedoch in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzt werden konnten). Es hatte Zimmer für die Kinder, einen gepflasterten Weg über den Hof und einen kleinen verwilderten Garten hinterm Haus. Allerdings ahnten sie damals nicht, daß er einmal der Vorsteher des benachbarten 251. Reviers werden würde.
Mary hatte das Licht auf der Diele brennen lassen. Am schönen großen Wandspiegel war mit Klebestreifen eine Nachricht befestigt. Im Eisschrank fände er kalten Hammelbraten und Kartoffelsalat sowie Linsensuppe zum Aufwärmen.
In der Küche zog er seine Uniformjacke aus und hängte sie samt der Pistolentasche über eine Stuhllehne. Dann mixte er sich einen Whisky-Soda, das erste alkoholische Getränk heute. Schluckweise trank er es und rauchte dazu eine Zigarette (die dritte heute). Er nahm das Whiskyglas mit in sein Arbeitszimmer und wählte noch einmal Fergusons Privatnummer. Fast augenblicklich meldete sich eine muntere Stimme.
„Dr. Ferguson."
„Hier Captain Edward X. Delaney."
„Hallo, 'Hier Captain Edward X. Delaney!"' Ferguson lachte. „Was zum Teufel ist denn bloß los mit Ihnen - haben Sie sich bei einer Minderjährigen 'n Tripper geholt?"
„Nein. Ich rufe wegen meiner Frau an. Barbara."
Der Ton wandelte sich augenblicklich.
„Oh. Wo drückt der Schuh, Edward?"
„Doktor, könnte ich Sie wohl heute abend noch sprechen?"
„Sie beide, oder nur Sie allein?"
„Nur ich. Sie ist im Krankenhaus."
„Tut mir leid, das zu hören. Edward, ich bin gerade im Begriff, das Haus zu verlassen. Vor Mitternacht werde ich nicht zurück sein. Ist das zu spät?"
„Nein. Ich kann um zwölf bei Ihnen sein. Wäre Ihnen das recht?"
„Sicher. Aber worum geht es denn eigentlich?"
„Das möchte ich Ihnen lieber persönlich sagen. Außerdem habe ich ein paar Gutachten. Und ein paar Röntgenaufnahmen."
„Ich verstehe. Na schön, Edward. Seien Sie um zwölf hier."
„Ich danke Ihnen, Doktor."
Er ging zurück in die Küche und aß etwas von dem kalten Hammelbraten und dem Kartoffelsalat. Alles schmeckte wie Stroh. Er setzte die Brille mit dem schweren schwarzen Gestell auf, las beim Essen methodisch jedes einzelne Gutachten und hielt sogar die Röntgenaufnahmen gegen das Lampenlicht, obwohl die ihm gar nichts sagten. Da war sie also, in diesen Schatten; die Frau, die ihm alles
Weitere Kostenlose Bücher