Die erste Todsuende
Klage. Sie sind frei und können gehen."
„Russ, ich hab Ihnen doch gesagt, daß es nicht meine Schuld war."
„Richtig. Aber immerhin hat der Mann eine gebrochene Kinnlade und möglicherweise innere Verletzungen davongetragen. Dan, Sie müssen lernen, sich zu beherrschen."
Doch damit war die Geschichte noch nicht zu Ende: Denn der Pförtner Lipsky bekam Wind von der Sache, obgleich in den Zeitungen nichts darüber gestanden hatte. Der Bartender des Papagei war Lipskys Schwager.
Eine Woche darauf klingelte Lipsky bei Blank. Nach einem Blick durchs Guckloch ließ er Lipsky ein. Lipsky begann sofort ein langes, wirres Klagelied anzustimmen. Seine Frau müsse an einem Bruch operiert werden, seine Tochter sich dringend einer kostspieligen Zahnkorrektur unterziehen; er selbst stehe bei einem Zinswucherer schwer in der Kreide, der drohe, ihm das Genick zu brechen, und er brauche auf der Stelle fünfhundert Dollar.
Blank wußte zuerst nicht, was er davon halten sollte, und fragte Lipsky, was er, Blank, denn damit zu tun habe. Daraufhin rückte Lipsky stotternd mit der Sprache heraus: Er wisse, was im Papagei vorgefallen sei; gewiß, es sei nicht Mr. Blanks Schuld, doch die anderen Hausbewohner... wenn die Sache bekannt würde... wenn die Leute anfingen zu reden...
Und dann zwinkerte er Daniel Blank zu.
Dieses plump-vertrauliche Augenzwinkern war schlimmer als des Opfers geflüstertes: „Ich liebe dich!" Daniel Blank kam sich angegriffen vor, angefallen von einem Tier, dessen Biß ihn in helle Wut versetzte. Gewalttätigkeit wallte in ihm auf.
Etwas davon dürfte Lipsky in seinen Augen gelesen haben, denn plötzlich drehte er sich um, machte, daß er hinauskam, und warf die Tür hinter sich zu. Seitdem hatten sie kaum miteinander gesprochen. Wenn es sich nicht umgehen ließ, befahl Blank, und der Pförtner gehorchte, sah ihm aber niemals dabei in die Augen. Zu Weihnachten verteilte Blank die üblichen Beträge - zehn Dollar für jeden Pförtner - woraufhin er von Charles Lipsky die übliche Dankeskarte erhielt.
Blank drückte auf den Knopf; geräuschlos glitt die Tür des elektrischen Fahrstuhls auf. Er trat ein, drückte auf Knopf TS (Tür schließen!), Knopf 21 (seine Etage) und Knopf M (Musik). Unter den gedämpften Klängen von „I Got Rhythm" fuhr er nach oben.
Seine Wohnung befand sich am Ende eines Seitentrakts des U-förmigen Gebäudes. Es war eine ungewöhnlich geräumige Zwei-Zimmer-Wohnung, deren Wohnzimmerfenster nach Norden hinausgingen, die des Schlafzimmers nach Osten und die Küchen- und Badezimmerfester nach Westen oder vielmehr auf den Hof des Hochhauses. Vom Lift bis zu seiner Wohnung ging man wie in einem langen, teppichbelegten Tunnel. Der Korridor war in mildes Licht getaucht, die vielen Türen blind, die Luft klimatisiert und tot.
Er schloß seine Wohnungstür auf, griff nach dem Schalter drinnen und knipste das Dielenlicht an, trat dann ein und blickte sich um. Er drehte den Schlüssel zweimal um, legte die Kette vor und brachte den Polizeiriegel an, eine schwere Stahlstange, die in einen Schlitz im Boden paßte und in einer an der Tür festgeschraubten Halterung einrastete.
Da er ein wenig hungrig war, ließ Blank Kleidung und Kletterausrüstung auf einem Stuhl in der Diele liegen und ging direkt in die Küche, wo er eine bläulich flimmernde Leuchtstoffröhre anknipste. Er inspizierte den Inhalt seines Kühlschranks, wählte eine Warzenmelone und schnitt sie halb durch. Eine Hälfte wickelte er in Butterbrotpapier ein und legte sie zurück in den Eisschrank. Dann kratzte er Kerne und das Weiche aus der anderen Hälfte heraus und füllte die so entstandene Vertiefung mit „Familia", Schweizer Cornflakes aus dem Reformhaus. Über dem Ganzen drückte er den Saft einer frischen Zitrone aus, aß gemächlich im Stehen und starrte sein Spiegelbild in dem Spiegel über dem Ausguß an.
Als er fertig war, warf er die Melonenschale in den Abfalleimer und spülte die Finger. Dann ging er von einem Raum in den anderen, knipste überall erst im nächsten Raum das Licht an, ehe er das in dem, wo er sich gerade befand, ausknipste. Als er sich in seinem Schlafzimmer auszog, stieß er wieder auf die Nachricht in seiner Hemdtasche: „Ein Haufen phantastischer Leute..." Den Zettel legte er auf den Nachttisch, wo er ihn beim Aufwachen bestimmt finden würde.
Die Badezimmertür machte er fest zu, ehe er sich so heiß duschte, daß die Luft sich mit dichtem Dampf füllte, der die Spiegel blind machte
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