Die ersten und die letzten Arbeiten des Herkules
Sie nennen sich ›Herde des Hirten‹. Sie haben ihr Hauptquartier in Devonshire – auf einem wunderbaren Landsitz am Meer. Die Anhänger gehen zur so genannten Einkehr hin. Das ist ein Zeitraum von vierzehn Tagen – mit Gottesdiensten und Riten. Und es gibt drei große Feste im Jahr: das Blühen der Weide, das Reifen der Weide, das Ernten der Weide.«
»Das letztere ist ein Unsinn«, fügte Poirot hinzu, »weil niemand Weideland erntet.«
»Die ganze Geschichte ist ein Unsinn«, bestätigte Miss Carnaby hitzig. »Die ganze Sekte dreht sich um das Haupt der Bewegung, den ›Großen Hirten‹, wie er genannt wird. Ein Dr. Anderson. Ein schöner Mensch, glaube ich, mit einem gewissen Auftreten.«
»Das auf Frauen wirkt, nicht wahr?«
»Ich fürchte, ja.« Miss Carnaby seufzte. »Mein Vater war ein sehr schöner Mensch. Es war in der Pfarrgemeinde manchmal äußerst peinlich. Die Rivalität beim Sticken der Messgewänder – und bei der Einteilung der Wohltätigkeitsveranstaltungen…«
Sie schüttelte in Erinnerung daran den Kopf.
»Sind die Mitglieder der Großen Herde zumeist Frauen?«
»Ich glaube mindestens drei Viertel von ihnen. Die wenigen Männer sind zumeist Halbnarren! Der Erfolg der Sekte hängt von den Frauen ab – und von den Geldern, die sie spenden.«
»Ah«, sagte Poirot, »jetzt kommen wir zum Kern der Sache. Offen gesagt, halten Sie das Ganze für einen Schwindel?«
»Offen gesagt, ja, Monsieur Poirot. Und noch etwas macht mir Sorge. Ich weiß zufällig, dass meine unglückliche Freundin in dieser Religion so aufgeht, dass sie jüngst ein Testament gemacht hat, in welchem sie ihr ganzes Vermögen der Sekte hinterlässt.«
»Wurde ihr das – suggeriert?«, warf Poirot rasch ein.
»Wenn ich gerecht sein will, nein. Es war ganz und gar ihre eigene Idee. Der Große Hirte hatte ihr einen Weg gewiesen – und so sollte alles, was sie besaß, nach ihrem Tod der großen Sache gehören. Was mich wirklich beunruhigt, ist – «
»Ja – fahren Sie fort – «
»Unter den Gläubigen waren mehrere sehr reiche Frauen. Im letzten Jahr sind nicht weniger als drei von ihnen gestorben.«
»Und haben ihr ganzes Vermögen der Sekte hinterlassen?«
»Ja.«
»Haben die Verwandten nicht protestiert? Ich hätte gedacht, dass so etwas zu Prozessen führen müsste?«
»Sehen Sie, Monsieur Poirot, dieser Sekte gehören gewöhnlich einsame Frauen an, die keine nahen Verwandten oder Freunde haben. Natürlich habe ich kein Recht, irgendeinen Verdacht auszusprechen. Nach dem, was ich in Erfahrung bringen konnte, war an diesen Todesfällen nichts Unrechtes. In einem Fall war es eine Lungenentzündung nach einer Influenza, im anderen Fall waren es Magengeschwüre. Es lagen absolut keine Verdachtsmomente vor, wenn Sie wissen, was ich meine, und der Tod erfolgte in ihren eigenen Heimen. Ich zweifle nicht, dass alles vollkommen in Ordnung ist, aber trotzdem – nun –, ich möchte nicht, dass Emmeline etwas zustößt.«
Sie presste die Hände zusammen und blickte Poirot flehend an.
Poirot schwieg einige Minuten. Als er sprach, hatte seine Stimme einen anderen Klang. Sie war ernst und eindringlich.
»Wollen Sie mir die Adressen jener Mitglieder der Sekte, die jüngst gestorben sind, verschaffen?«, bat er.
»Gewiss, Monsieur Poirot.«
»Mademoiselle«, fuhr er langsam und eindringlich fort, »ich halte Sie für eine Frau von großem Mut und großer Entschlusskraft. Sie haben sehr gute schauspielerische Fähigkeiten. Wären Sie bereit, für mich eine Aufgabe zu übernehmen, die eventuell mit einer beträchtlichen Gefahr verbunden ist?«
»Nichts lieber als das«, erwiderte Miss Carnaby.
Poirot sagte warnend:
»Wenn überhaupt eine Gefahr besteht, dann ist es eine sehr ernste. Verstehen Sie – entweder es ist eine Seeschlange, oder es gilt ernst. Um das herauszufinden, werden Sie selbst ein Mitglied der Großen Herde werden müssen. Ich rate Ihnen, die Höhe der Erbschaft, die Sie jüngst gemacht haben, zu übertreiben. Sie sind jetzt eine wohlhabende Frau ohne rechten Lebenszweck. Diskutieren Sie mit Ihrer Freundin über diesen neuen Glauben – erklären Sie ihr, dass es lauter Unsinn ist. Sie wird Sie bekehren wollen. Lassen Sie sich überreden, nach Green Hills Sanctuary zu kommen. Und dort erliegen Sie dann Dr. Andersons Überredungskunst und magnetischem Einfluss. Ich glaube, ich kann Ihnen diese Rolle getrost anvertrauen.«
Miss Carnaby lächelte bescheiden und flüsterte:
»Ich glaube, ich werde
Weitere Kostenlose Bücher