Die ersten und die letzten Arbeiten des Herkules
solche willkommen. Und glauben Sie mir, unsere Lehren sind nicht heidnisch. Hier sind alle Religionen willkommen und alle gleich geachtet.«
»Dann sollten sie es eben nicht sein«, widersprach die standhafte Tochter des verstorbenen Reverend Thomas Carnaby.
Der Meister lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sagte mit seiner volltönenden Stimme: »In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen… Bedenken Sie das, Miss Carnaby.«
Als sie den hohen Herrn verließen, flüsterte Miss Carnaby ihrer Freundin zu: »Er ist wirklich ein sehr schöner Mann.«
»Ja«, seufzte Emmeline Clegg, »und so durchgeistigt.«
Miss Carnaby stimmte zu. Es war wahr – sie hatte es gefühlt: eine Aura der Weitabgewandtheit, der Durchgeistigung.
Sie gab sich einen Ruck. Sie war nicht hier, um auch ein Opfer der geistigen und anderen Reize des Großen Hirten zu werden. Sie beschwor das Bild Hercule Poirots herauf. Er erschien ihr weit fort und sonderbar weltlich…
»Amy«, ermahnte Miss Carnaby sich selbst, »nimm dich zusammen. Bedenke, warum du hier bist…«
Aber im Verlauf der Tage gab sie sich nur allzu gerne dem Zauber von Green Hills hin. Der Friede, die Einfachheit, die köstliche, wenn auch einfache Nahrung, die Schönheit des Gottesdienstes mit seinen Gesängen von Liebe und Ehrfurcht, die schlichten, rührenden Worte des Meisters, die an das Beste und Höchste im Menschen appellierten – hier war der ganze Kampf, die ganze Hässlichkeit der Welt ausgeschaltet. Hier war nur Frieden und Liebe…
Und heute Abend war das große Fest, das Fest der ›Vollerblühten Weide‹. Und bei diesem Anlass sollte sie, Amy, eingeweiht – ein Glied der Großen Herde werden.
Das Fest fand in dem glänzenden weißen Betonbau statt, den die Eingeweihten den Geheiligten Pferch nannten. Hier versammelten sich die Gläubigen kurz vor Sonnenuntergang. Sie trugen Mäntel aus Schafsfell und Sandalen. Ihre Arme waren bloß. In der Mitte des Pferchs, auf einer Estrade, stand Dr. Anderson. Der große, goldblonde, blauäugige Mann mit dem schönen Bart und dem edlen Profil hatte nie bezwingender ausgesehen. Er war in ein grünes Gewand gehüllt und trug einen goldenen Hirtenstab in der Hand.
Er erhob ihn – Totenstille legte sich auf die Versammlung.
»Wo sind meine Schafe?«
Die Menge antwortete:
»Wir sind hier, Hirte.«
»Hoch die Herzen vor Freude und Dank. Das ist das Fest der Freude.«
»Das Fest der Freude, und wir sind voller Freude.«
»Ihr sollt weder Leid noch Schmerzen mehr erdulden. Alles ist Freude.«
»Alles ist Freude.«
»Wie viel Häupter hat der Hirte?«
»Drei Häupter, eines aus Gold, eines aus Silber, eines aus kli n gender Bronze.«
»Wie viel Leiber haben die Schafe?«
»Drei Leiber, einen aus Fleisch, einen aus Verder b nis, einen aus Licht.«
»Wie wird eure Aufnahme in die Große Herde besiegelt?«
»Durch das Sakrament des Blutes.«
»Seid ihr für dieses Sakrament vorbereitet?«
»Wir sind es.«
»Verbindet eure Augen und streckt den rechten Arm vor.«
Die Menge verband gehorsam die Augen, mit für diesen Zweck eigens vorbereiteten grünen Schleiern. Miss Carnaby streckte wie die anderen den rechten Arm vor.
Der Große Hirte schritt die Reihen seiner Herde ab. Man hörte kleine Schreie, Stöhnen des Schmerzes oder der Verzückung.
Miss Carnaby murmelte grimmig zu sich selbst:
»Die reinste Blasphemie! Diese Art religiöser Hysterie ist äußerst beklagenswert. Ich werde vollkommen unbeteiligt bleiben und die Reaktionen der anderen beobachten. Ich werde mich nicht mitreißen lassen – ich werde nicht…«
Der Große Hirte war zu ihr gekommen. Sie fühlte, wie er ihren Arm nahm und festhielt und fühlte einen stechenden Schmerz wie von einer Nadel. Des Hirten Stimme flüsterte:
»Das Sakrament des Blutes, das Freude bringt…«
Er ging weiter.
Kurz darauf ertönte ein Befehl:
»Nehmt die Schleier ab und genießt die Freuden der Seele!«
Die Sonne ging gerade unter. Miss Carnaby blickte sich um. Inmitten der anderen verließ sie langsam den Pferch. Plötzlich fühlte sie sich gelöst, glücklich. Sie ließ sich auf eine weiche Rasenböschung nieder. Warum hatte sie sich für eine einsame, ungeliebte, alternde Frau gehalten? Das Leben war wundervoll – sie selbst war wundervoll! Sie hatte die Herrschaft über ihre Gedanken – und ihre Träume. Es gab nichts, das sie nicht vollbringen konnte!
Eine Glückswelle durchströmte sie. Sie beobachtete die anderen Gläubigen um sich herum – sie
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