Die ersten und die letzten Arbeiten des Herkules
gesehen wie in diesem Fall.
Miss Pope lächelte nachsichtig.
»Man darf die jungen Mädchen nicht entmutigen, Monsieur Poirot. Winnie würde hier natürlich angehalten werden, Besseres zu leisten.«
Poirot sagte nachdenklich:
»Es wäre für sie doch nahe liegender gewesen, es in Aquarell zu malen, nicht wahr?«
»Ja, ich wusste nicht, dass sie angefangen hat, in Öl zu malen.«
»Ah«, murmelte Hercule Poirot. »Sie gestatten, Mademoiselle?«
Er nahm das Bild von der Wand, trug es zum Fenster und prüfte es. Dann blickte er auf.
»Ich bitte Sie, Mademoiselle, mir dieses Bild zu geben.«
»Wirklich, Monsieur Poirot – «
»Sie können nicht behaupten, sehr daran zu hängen. Es ist miserabel gemalt.«
»Oh, es hat keinen künstlerischen Wert, das gebe ich zu, aber es ist das Werk einer Schülerin und – «
»Ich versichere Ihnen, Mademoiselle, dass es ein sehr ungeeignetes Bild ist, um hier in Ihrem Salon zu hängen.«
»Ich verstehe nicht, wie Sie das sagen können, Monsieur Poirot.«
»Ich werde es Ihnen sofort beweisen.« Er zog ein Fläschchen, einen Schwamm und einen Lappen aus der Tasche.
»Erst werde ich Ihnen eine Geschichte erzählen, Mademoiselle. Sie erinnert an die Geschichte von dem hässlichen Entlein, aus dem ein Schwan wurde.«
Er arbeitete eifrig, während er sprach. Terpentingeruch erfüllte den Raum.
»Sie gehen wohl nicht oft in Revuen?«
»Nein, wirklich nicht. Ich finde sie so trivial…«
»Trivial gewiss, aber zuweilen lehrreich. Ich habe neulich in einer Revue eine glänzende Verwandlungskünstlerin gesehen. Zuerst erscheint sie als Kabarettstar, bezaubernd, voller Sex-Appeal, zehn Minuten darauf ist sie ein schwächliches, unterentwickeltes Kind in einem Turnanzug mit Polypen in der Nase, wieder zehn Minuten später ist sie eine alte, zerlumpte Zigeunerin, die am Straßenrand wahrsagt.«
»Möglich, aber ich sehe nicht – «
»Aber ich zeige Ihnen doch, wie das Zauberkunststück im Zug gemacht wurde. Winnie, das Schulmädchen mit den blonden Zöpfen und ihrer entstellenden Zahnspange geht in die Toilette. Sie kommt eine Viertelstunde später als ›Prachtweib‹ heraus, um Detektivinspektor Hearn zu zitieren. Hauchzarte Seidenstrümpfe, Schuhe mit hohen Absätzen, ein Nerzmantel, um die Pensionskleidung zu verdecken, ein Eckchen Samt, Hut genannt, auf ihren Locken – und ein Gesicht – o ja, ein neues Gesicht. Rouge, Puder, Lippenstift, Mascara! Wie sieht das Gesicht jener Verwandlungskünstlerin in Wirklichkeit aus? Das weiß vermutlich nur der liebe Gott! Aber Sie selbst, Mademoiselle, haben gewiss oft genug gesehen, wie sich ein linkisches Schulmädchen wie durch ein Wunder in eine reizende Debütantin verwandelt.«
Miss Pope keuchte:
»Wollen Sie sagen, dass Winnie selbst sich verkleidete, als – «
»Nicht Winnie King – nein. Winnie wurde auf dem Weg durch London entführt. Unsere Verwandlungskünstlerin nahm ihren Platz ein. Miss Burshaw hatte Winnie King nie gesehen – wie sollte sie wissen, dass das Schulmädchen mit den Zöpfen und der Zahnspange nicht Winnie King war? Soweit wäre die Sache geglückt, aber die Betrügerin konnte es nicht wagen, tatsächlich hier anzukommen, da Sie ja die wirkliche Winnie kannten. So verschwindet Winnie in die Toilette und kommt – eins zwei drei – als Frau eines gewissen Jim Elliot wieder heraus, in dessen Paß eine Ehefrau eingetragen ist! Die blonden Zöpfe, die Zahnspange, die Zwirnstrümpfe, die Brille – all das nimmt nicht viel Platz ein. Aber die schweren, plumpen Schuhe und der Hut – dieser unförmige britische Hut – mussten verschwinden; sie fliegen aus dem Fenster. Später wird die wirkliche Winnie über den Kanal gebracht – niemand sucht nach einem kranken, halbbetäubten Kind, das von England nach Frankreich gebracht wird – und wird einfach von einem Auto neben der Hauptstrecke abgesetzt. Wenn sie die ganze Zeit Skopolamin bekommen hat, wird sie sich kaum erinnern, was vorgefallen ist.«
Miss Pope starrte Poirot entgeistert an.
»Aber warum? Was war der Grund dieser sinnlosen Maskerade?«
Poirot sagte ernst:
»Winnies Gepäck! Diese Leute wollten etwas von England nach Frankreich schmuggeln, etwas, wonach jeder Zollbeamte fahndete, gestohlenes Gut. Aber welcher Ort ist sicherer als der Koffer eines Schulmädchens? Sie sind sehr bekannt, Miss Pope. Ihr Pensionat ist mit Recht berühmt. Auf der Gare du Nord lässt man die Koffer der Mesdemoiselles les petites Pensionnaires ungeöffnet
Weitere Kostenlose Bücher