Die Erwaehlten
haben sie diese Zuflucht für sich erschaffen.“
„Sie haben die blaue Zeit gemacht ?“,fragte Jessica.
Rex nickte. „Die Lehre sagt, dass sie eine Stunde vom Tag genommen und zu einem Moment zusammengeschrumpft haben, damit die Menschen sie nicht mehr sehen konnten.“
„Bis auf die, die genau in dem Moment geboren werden“, fügte Jessica leise hinzu.
„Du hast es geschnallt“, sagte Dess. „Ein paar Leute muss es treffen, verstehst du? Bei wie vielen Sekunden pro Tag.“
Dess sah Jessica erwartungsvoll an.
„Was ist?“, fragte Jess.
Rex seufzte. „Sie will, dass du ihr sagst, wie viele Sekunden ein Tag hat.“
Jessica zuckte mit den Schultern. „Viele?“
„Sechzig Sekunden pro Minute“, sagte Dess vor. „Sechzig Minuten pro Stunde. Vierundzwanzig Stunden pro Tag.“
„Das wären dann …“ Jessica blickte vollkommen konzentriert zur Decke hoch. „ Ziemlich viele?“
„86.400“, antwortete Dess gelassen. „Ich dachte, vielleicht bist du, na ja, echt gut in Mathe. Schließlich bist du in Trig.“
Jessica stöhnte. „Das war eine Idee von meiner Mom. Als wir die Schule wechseln mussten, hat sie beschlossen, mich als verkanntes Genie zu verkaufen.“
„Dumm gelaufen“, meinte Dess. Sie sah Rex an und zuckte mit den Schultern.
Melissa kicherte wieder, während sie leise mit ihren Kopfhörern mitsang. Rex konnte den Text kaum verstehen.
„Schmeckt nach … Vanille.“
akrobat
11.55 Uhr nachts
13
Im vergangenen Jahr hatte es an der PS 141 ein großes Experiment in Biologie gegeben.
Jessicas Klasse hatte zwei Haufen Plattwürmer gezüchtet, in Terrarien, die eigentlich Aquarien waren, aber mit Dreck statt mit Wasser gefüllt. Die Plattwürmer waren in der Tat platt, mit kleinen dreieckigen Köpfen, die den Speerspitzen, von denen Rex so begeistert war, irgendwie ähnlich sahen. Sie hatten zwei kleine Punkte, die wie Augen aussahen, aber keine waren. Licht konnten sie trotzdem erkennen.
In dem einen Aquarium hatte die Klasse das Futter für die Würmer immer in die gleiche Ecke getan, unter einer kleinen Lampe, die sie immer anknipsten, wenn Futterzeit war. Das Licht funktionierte wie ein Kneipenschild: Kommt rein, wir haben geöffnet.
In dem anderen Terrarium streute die Klasse das Futter einfach an einer beliebigen Stelle über den Dreck.
Die Plattwürmer in dem ersten Terrarium waren nicht blöd. Ziemlich bald hatten sie herausgefunden, was das Licht bedeutete. Wenn man mit einer Taschenlampe in irgendeine Ecke des Terrariums leuchtete, kamen die Würmer an und suchten nach Futter. Sie wären hinter dem Licht sogar im Kreis herumgekrochen, falls man mit ihnen ein Wurmrennen hätte veranstalten wollen.
Anschließend, wie immer in Biologie, wurde es Zeit für den ekligen Teil des Experiments. Mit der Taschenlampe lockte die Klasse die ganzen cleveren, lichtgeilen Würmer in dem ersten Terrarium an. Die tat ihre Lehrerin, Mrs Hardaway, in eine Schüssel und zermatschte sie zu Wurmpaste. Niemand wurde gezwungen, zuzusehen, ein paar Schüler taten es trotzdem. Jessica nicht.
Wem das noch nicht eklig genug war, für den verfütterte Mrs Hardaway die zerquetschten Würmer an die anderen Würmer. Offensichtlich fraßen Plattwürmer alles, sogar andere Würmer.
Am nächsten Tag versammelte sich die Klasse, und zum allerersten Mal versetzte Mrs Hardaway die kleine Kneipenbeleuchtung an das zweite Terrarium. Jessica durfte das Licht anschalten. Einer nach dem anderen reckten die Würmer ihre kleinen, flachen Köpfe, gierig nach Futter. Sie hatten gelernt, wie die Kneipenbeleuchtung funktioniert, indem sie die Würmer aus dem anderen Terrarium fraßen, als ob man Französisch lernen könnte, indem man Franzosenpommes aß, nur eindeutig ekliger.
Heute Nacht saß Jessica Day auf ihrem Bett, wartete zwischen ihren unausgepackten Kartons darauf, dass es Mitternacht wurde, und hatte den Nachgeschmack der Midnighter auf ihrer Zunge.
Rex und Dess hatten sie stundenlang im Museum festgehalten, ihr Hirn mit allem vollgestopft, was sie über Darklinge wussten, über die blaue Zeit, über Midnighter und ihre Talente und über die geheime Geschichte von Bixby, Oklahoma. Sie hatten absurde Erfahrungen und unglaubliche Entdeckungen von Jahren zusammengemixt und wie eine einzige, gigantische Mahlzeit präsentiert. Und Jessica blieb natürlich nichts anderes übrig, als jeden Bissen zu schlucken. Die geheime Stunde war gefährlich. Was sie nicht kannte, konnte ihr tatsächlich etwas
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