Die Erwaehlten
sein, aber mit der vergangenen Nacht waren all ihre Kindheitsträume zurückgekehrt. Da war was unter dem Bett. Im Moment war das vielleicht psychosomatisch, trotzdem spürte sie, dass sie da unten waren.
Sie sah auf ihre Uhr, die sie jetzt auf Bixbyzeit eingestellt hatte. Dess hatte erklärt, dass die „echte Mitternacht“ in jeder Stadt zu einem anderen Zeitpunkt stattfand. Zeitzonen täuschten einfach irgendwie. Wenn die Uhr jetzt aber zwölf schlug, war Jessica so weit von der Sonne entfernt, wie es ging.
Noch eine Minute.
Jessica schnappte sich Rechtsordnung und zog sie auf ihre volle Länge auseinander. Sie schwenkte sie wie ein Schwert durch die Luft. Die Radioantenne stammte von einem Chevy Baujahr 1976, einer Jahreszahl, die sich tatsächlich durch dreizehn teilen ließ. Dess hatte sie für einen besonderen Anlass aufgehoben.
Jessica lächelte. Ein seltsameres Geschenk hatte sie noch nie bekommen, aber sie musste zugeben, dass es gut in der Hand lag.
Die geheime Stunde war da.
Die Deckenbeleuchtung verlosch wie ein Blitz, an ihre Stelle trat das vertraute blaue Leuchten aus jeder Ecke des Zimmers. Das Rauschen des Windes in den Bäumen hörte abrupt auf. Diesmal war Jessica während des Wechsels hellwach, den sie deshalb diesmal nicht nur hören und sehen, sondern auch spüren konnte. Etwas Unsichtbares schien an ihr zu zerren, sie vorwärtszuschleudern, wie am Ende einer Achterbahnfahrt, wenn der Waggon allmählich zum Stehen kam. Ein Gefühl von Leichtigkeit kam über sie, und sie spürte, wie die gestoppte Bewegung wie ein Zittern durch ihren Körper fuhr.
Das Beben der ganzen Welt, die hier um sie herum anhielt.
„Na dann“, sagte Jessica zu sich selbst. „Auf ein Neues.“
Obwohl sie genau wusste, wie real die blaue Stunde war, kam sie ihr immer noch wie ein Traum vor.
Sie lief im Zimmer umher, fasste Dinge an, um sich zu vergewissern. Die scharfen Kanten der Pappkartons fühlten sich noch genauso an, die Kieferndielen am Boden waren so glatt und kühl wie immer.
„Real, real und real“, bestätigte sie leise, während ihre Finger über Kleider, Schreibtisch, Buchrücken tasteten.
Jetzt war die Midnight da, und Jessica begann sich zu fragen, was sie mit der Extrastunde anfangen sollte. Vor ein paar Minuten hatte sie ihre Eltern in der Küche reden gehört. Sie wollte ihre blassen und starren Gesichter aber nicht sehen; lieber blieb sie in ihrem Zimmer.
Es gab noch etliches auszupacken. Sie öffnete einen Karton und betrachtete das Chaos in seinen Tiefen. Das blaue, schattenlose Licht schien aber zu fremd für derart weltliche Dinge. Sie setzte sich auf ihr Bett, nahm das Lexikon zur Hand, das sie ausgepackt hatte, als sie nach Hause gekommen war, und schlug es auf, um nach Tridecalogismen zu suchen.
Sie fand nur einen einzigen – formvollendet – , bis sie von dem Licht Kopfschmerzen bekam. Die anderen Midnighter konnten in der blauen Zeit bestimmt prima lesen. Vielleicht hatte Melissa recht; Jessicas Augen fühlten sich falsch an, jedenfalls hier in der geheimen Stunde.
Sie sah aus dem Fenster und betrachtete die reglose Welt, fing aber an zu zittern und sah weg. Der Gedanke, etwas könnte zu ihr zurückblicken, machte ihr zu viel Angst.
Sie nahm ihre Füße vom Boden hoch, legte sich zurück und starrte an die Decke.
Jessica seufzte. Das konnte ziemlich langweilig werden.
Kurz darauf hörte sie ein Geräusch.
Es war ein sehr sanftes Pochen, kaum zu hören, trotz der absoluten Stille. Jessica dachte sofort an Pantherpfoten und sprang vom Bett.
Sie schnappte sich Rechtsordnung und klimperte mit Fossilisation und Holdseligkeit, um sich zu vergewissern, dass sie noch in ihrer Tasche steckten. Vom Ende ihres Bettes aus konnte Jessica nicht viel von der Straße sehen, aber sie fürchtete sich zu sehr, um sich den Fenstern zu nähern. Vorsichtig suchte sie in ihrem Schlafzimmer nach einer Position, von der aus sie sehen konnte, was sich dort draußen aufhielt.
Eine dunkle Gestalt bewegte sich auf dem Weg zur Haustür. Jessica umklammerte die Autoantenne fester. Rex und Dess hatten versprochen, dass sie hier sicher wäre. Sie hatten gesagt, sie wüsste genug, um sich zu verteidigen.
Was, wenn sie falschlagen?
Jetzt presste sie sich mit dem Rücken an die Tür. Sie stellte sich vor, wie sich die riesige Katze durch die Haustür und durch die Flure quetschte, um zu ihr zu schleichen. Auf einmal erschien es ihr absolut unwahrscheinlich, dass die dreizehn Reißzwecken, die sie
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