Die Erzaehlungen 1900-1906
sie die Stiege hinunter, daß das
Geländer krachte und sie nur mit Mühe und Schmerzen davonhinken konnte.
Von da an blieb Garibaldi ganz einsam und nun brach das Alter plötzlich
vollends über ihn herein. Die Pfeife begann ihm im Munde zu wackeln und
häufig auszugehen, die Selbstgespräche nahmen kein Ende, die Arbeit wur-
de ihm sauer. Schließlich gab er sie auf und war fast über Nacht zu einem
gebückten und zittrigen Kerlchen geworden.
Für mich hörte er darum nicht auf, wichtig und rätselhaft zu sein. Ich
fürchtete ihn mehr als je und konnte es doch nicht lassen, ihm halbe Stunden lang vom sicheren Fenster aus zuzuschauen. Beim Rauchen stützte er jetzt
den Ellenbogen aufs Knie und hielt die Pfeife mit der Hand fest, aber auch
die war zittrig und hatte keine Kräfte mehr.
Die Tage waren noch kühl und im Walde lag noch ein wenig Schnee, da war
eines Tages der Garibaldi gestorben.
Mein Vater bürstete seinen Schwarzen und ging zur Leiche. Ich durfte nicht
im Zug mitgehen (wenn man das Dutzend Nachbarn einen Zug heißen will),
aber ich stieg auf die Kirchhofmauer und hörte zu und erfuhr dabei zum er-
stenmal, daß der Tote nicht Garibaldi, sondern Schorsch Großjohann geheißen
hatte, was mich in lange Zweifel stürzte, denn fragen mochte ich niemand.
Nachher sagte mein Vater zur Mutter: Unser Garibaldi war doch ein son-
derbarer Mensch, fast unheimlich; weiß Gott, wie er so geworden ist.
Darüber hätte ich nun mancherlei mitteilen können. Aber ich behielt alles
für mich – das Wahrsagen, das Zaubern, die Nachtgänge flußabwärts und das,
was ich über den Tod des bayrischen Mühlenbauers vermutete.
(1904)
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Aus der Werkstatt
Mein Freund erzählte:
Während ich als zweiter Lehrling in der mechanischen Werkstatt war, gab es
einmal einen merkwürdigen Tag in unsrer Bude. Es war gegen Anfang des
Winters, an einem Montag, und wir hatten alle drei schwere Köpfe, denn am
Sonntag hatte ein Kollege aus der Gießerei seinen Abschied gefeiert, und es war spät geworden und hoch hergegangen mit Bier und Wurst und Kuchen. Jetzt
am Montag standen wir schläfrig und verdrossen an unsern Schraubstöcken,
und ich weiß noch, wie ich den zweiten Gesellen beneidete, der eine große
Schraubenstange auf der englischen Drehbank laufen hatte; ich sah oft zu ihm hinüber, wie er an der Schiene lehnte und blinzelte und so halb im Schlaf die bequeme Arbeit tat. Zu meiner Qual hatte ich eine heikle Beschäftigung, das
Nachfeilen von blanken Maschinenteilen, wobei ich jede Minute nachmessen
und beständig mit ganzer Aufmerksamkeit dabei sein mußte. Die Augen ta-
ten mir weh, und meine Beine waren so unausgeschlafen und weich, daß ich
fortwährend den Stand wechselte und mich oft mit der Brust an den obe-
ren Knopf des Schraubstockhebels lehnte. Und den andern ging es nicht bes-
ser. Einer hieb an einem Eisensägeblatt schon dreiviertel Stunden, und Fritz, der Jüngste, hatte soeben den Meißel, den er schärfen wollte, in den Schleif-steintrog fallen lassen und sich die Finger dabei aufgerissen. Wir hatten ihn ausgelacht, aber nur schwächlich; wir waren alle zu müd und verstimmt.
Aber der kleine Katzenjammer war das wenigste, das wußten oder spürten
wir alle, wenn auch keiner etwas davon sagte. Oft genug war es grade am
Morgen nach einer Zecherei in der Werkstatt extra lustig zugegangen. Diesmal hörte man, auch wenn der Meister einmal weg war, nicht einmal die üblichen
Anspielungen auf gestrige Heldentaten und Witze. Alle hielten sich still und fühlten, daß etwas Peinliches im Anzug war. Wir waren wie die Schafe, wenn
der Himmel schwarz wird und es zu donnern anfängt. Und das Gefühl von
Bangigkeit und Gefahr galt unsrem ältesten Gesellen, dem Hannes. Er hatte
schon seit acht Tagen auf Schritt und Tritt Reibereien mit dem Meister gehabt, mit dem jungen nämlich, dem Meisterssohn, der neuerdings das Regiment
beinah allein führte. Und seit ein paar Tagen konnte man spüren, daß ein
Unwetter drohte; die Stimmung in der Werkstatt war schwül und bedrückt,
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der Meister redete nichts, und die Lehrlinge schlichen scheu und ängstlich
herum, als schwebe immer eine ausgestreckte Hand ihnen über den Ohren.
Dieser Hans war einer der tüchtigsten Mechaniker, die ich gekannt habe, er
stand seit etwa einem Jahr bei uns in Arbeit. In dieser Zeit hatte er, namentlich solang noch der alte Meister das Heft in der Hand hatte, nicht bloß bestens gearbeitet, sondern auch
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