Die Erzaehlungen 1900-1906
Fensterlein gleich einem
trüben roten Auge auf, und damitten kauerte rastend der alte Abenteurer, bis ihn fröstelte, dann verschwand er still in den finsteren Torweg hinein wie in eine unzugänglich fremde Welt.
Der alte Garibaldi hatte zwei Söhne gehabt, junge stramme Riesen von gewal-
tiger Erscheinung und von übelstem Ruf, aber beide waren eines Tages ohne
Abschied verschwunden und man brachte sogleich alle in den letzten Jah-
ren am Ort begangenen und unaufgeklärt gebliebenen Verbrechen mit ihrem
Flüchtigwerden in Verbindung. Fast ein Jahr später kam Bericht aus Brasili-
en, daß beide nicht mehr am Leben seien. Der eine war schon unterwegs auf
dem Schiff am Fieber gestorben, der andere nachher in Rio, offenbar im bit-
tersten Elend. Zusammen mit dem dazu beauftragten Polizeidiener besuchte
mein Vater den Alten, um ihm die Todesnachricht zu bringen.
Ihren Söhnen ist’s drüben nicht gut gegangen , fing mein Vater an.
Wo drüben denn?
fragte der Garibaldi.
In Brasilien. ’s ist ihnen nicht gut gegangen.
Wieso?
Wieso? Tot und gestorben sind sie , schrie der Büttel, dem es nicht wohl
war, bis er es herausgesagt hatte.
225
So so?
machte der Garibaldi und schüttelte den Kopf. Und:
Alle beide?
fragte er nach einer Weile.
Ja wohl, alle beide , sagte mein Vater.
So so. – So so.
Und als jetzt mein Vater sich anschickte, einen Anfang mit dem Trösten zu
machen, winkte er ab und lächelte verachtungsvoll. Da ging denn mein Vater
mit dem Polizeidiener wieder fort und Garibaldi machte sich wie sonst an seine Arbeit.
Am Abend dieses Tages, da jedermann die Nachricht schon wußte, saß er
wieder auf seiner Staffel und alle Nachbarn schauten ihn an und alle paar
Minuten rief ihn einer vom Fenster oder von der Gasse herüber an:
Mein
Beileid auch, du!
Und er sagte jedesmal
merci . Da kam der Stadtpfarrer auch noch gegan-
gen und gab ihm die Hand und sagte freundlich:
Wir wollen in Ihre Stube
hineingehen, kommen Sie!
Aber Garibaldi schüttelte den Kopf.
’S ist gut , sagte er,
und ich sag
meinen merci , und blieb sitzen, und die vielen Herumsteher drückten sich
hintereinander und kicherten. Der Stadtpfarrer schien betrübt und es sah aus, wie wenn er noch einiges zu sagen hätte, aber er zog nur den Hut und grüßte
wieder freundlich und ging langsam aus dem Hof und fort, und der Garibaldi
blies eine große Rauchwolke hinter ihm her.
Von da an, wenn ich ihn des Abends wieder rasten sah, schien mir sein
Gesicht ein wenig tiefer gefurcht und noch abwehrender und einsamer als sonst, und ich betrachtete ihn, der zwei starke Söhne im fremden Land verloren hatte, mit vermehrter Scheu.
Außer jenen untergegangenen Söhnen hatte Garibaldi noch drei verheiratete
Töchter, deren älteste verwitwet war. Dies war die Lene Voßler, ein wildes und berüchtigtes Weib, groß von Wuchs und von einer seltsam ungelenken, aber
längst verwilderten Schönheit. Diese war von allen seinen Kindern das einzige, das zu ihm paßte, und auch das einzige, das in Verkehr und Freundschaft
mit ihm stand. Sie kam den Winter über fast jeden Abend zu ihm in seine
Hinterhausstube; dort saß sie neben dem Alten, oft bis es spät wurde, und
redete kaum ein Wort mit ihm, der seine kleine Pfeife im Munde hielt und
ebenfalls schwieg. Ich besann mich oft genug, was die zwei wohl miteinander
anstellen möchten, aber sie saßen hinter den alten großblumigen Gardinen aus Wolle und man konnte im Schimmer der schlechten Ölfunzel nur zuweilen ihre
ernsten Köpfe sehen.
Und häufig kam zu diesen beiden merkwürdigen, geheimnisvollen Menschen
noch eine dritte Fabelgestalt. Dies war der alte Penzler, ein gewesener und verarmter Mühlenbauer, der aus Bayern stammte und den schon seine Herkunft
und sein seltenes Handwerk zu etwas besonderem machten. Seit Jahren lebte
226
er einsam und vielbesprochen in der finsteren Hengstettergasse ein ärmliches Sonderlingsleben, drehte ewig an seinem ungeheuren Schnauzbart, redete in
alttestamentlichen Wendungen und betrank sich alle paar Wochen einmal, was
meistens zu Nachtskandal und schlimmen Szenen führte. Der einzige Mensch,
dem er Achtung zeigte und mit dem er eine Freundschaft unterhielt, war Gari-
baldi. Als dessen Söhne totgesagt wurden, kam Penzler zu ihm, schlug ihm auf die Schulter und rief mit gewaltiger Trösterstimme:
So gehts, alter Prophe-
te! Wir sind allesamt wie Gras und wie des Grases Blüte. Na, die Lausbuben
haben jetzt keine Sorgen
Weitere Kostenlose Bücher