Die Erzaehlungen 1900-1906
kürzeren Aufenthal-
ten, die auch zum Kennenlernen fremder Leute und zur Teilnahme an ihnen
Zeit und Anlaß gaben. So besitze ich eine Menge schlichter, lieber Freunde
in Gasthäusern, Sennhütten, Bauernkaten, in Fischdörfern und Bergnestern
und auf einsam gelegenen Höfen. Wir schreiben einander nicht, aber wenn ich
heute nach Bozen, nach Sestri, nach Chioggia, nach Sylt, nach Spiez komme,
so kennen sie mich, erzählen mir ihre Familiengeschichten, zeigen mir Kinder, Enkel, Bräute, Vieh und Ländereien, bieten mir ihre beste Schlafstube an und fordern keine Fremdenpreise dafür. Auch fände ich bei manchen von ihnen un-237
ter Glas oder ohne Glas mein Bild hängen, gezeichnet, daguerrotypiert oder
photographiert, das Bild eines Dreißigers, Fünfzigers, Sechzigers – Bilder, die zum Teil mir selbst aus dem Gedächtnis entschwunden sind und auf denen
ich noch kräftig, aufrecht und strack aussehe, wie ich es gottlob Jahrzehnte hindurch gewesen bin. An mancher Kalkund Holzwand fände ich auch eine
Zeichnung, eine Karikatur, einen Vers, die ich seiner Zeit darauf gekritzelt habe.
Nun, genug davon! Mehr als das Wandern selbst habe ich stets die Aufent-
halte geliebt, Aufenthalte da und dort, kurze und lange, und ich gebe mehr
darauf, ein kleines Stück Landschaft durch und durch zu kennen, als viele
Länder im Flug gesehen zu haben. Dabei habe ich nie etwa das Hochgebirge
oder den Wald oder die Ebene oder Heide bevorzugt; nur ohne sor aqua, ohne
Schwester Wasser, hielt ich nirgends lange aus. Ein Bach, ein Fluß oder am
liebsten ein See oder Meer ist mir immer eine liebe, ja unentbehrliche Nachbarschaft gewesen. Schwimmen, Rudern, Segeln und Angeln war von jeher meine
Leidenschaft, und ich hätte eigentlich als Insulaner geboren werden müssen.
Daher war ich, als ich zum erstenmal den wunderbaren Lobgesang des heiligen
Franziskus las, der alle Elemente und Kreaturen mit geschwisterlicher Liebe
umfaßt, entzückt über das zärtliche sor aqua und hatte damit den Namen
für meine Liebe zu allem Wasser gefunden. Wie eine Schwester liebte ich es,
und wie eine Schwester verstand es mich, liebte mich wieder und erschloß mir seine zahllosen geheimen Schönheiten, denen noch nie ein Maler oder Dichter
gerecht worden ist.
Wer sollte auch das Wasser nicht lieben! Es ist beweglich, weich, rein,
mächtig, es spiegelt den Himmel und die unsichtbaren Farben der Luft, es
redet und singt vom süßen Plauderton bis zum unwiderstehlichen Sturmlied,
es zieht in köstlichen Schleiern am Himmel hin. Wie oft stand ich bezau-
bert in den Anblick des mittäglich leuchtenden Meeres versunken oder der
Abendspiegelung eines Bergsees, wie viel Ströme und Gewässer haben mich
als Schwimmer und Schiffer getragen, gewiegt und liebkost. Und dann ein
Meersturm oder eine stille Seenacht! Mit besonderem Reiz zeigt mir die Erin-
nerung sodann die Nächte, in denen ich zu Fuß unterwegs war und einen Fluß
oder Strom zum Begleiter hatte. Dies dunkle Rauschen des Weggenossen, dies
ewige gewaltige Ziehen ohne Rast und Ende, woneben alle meine Wander-
schaft nur eine kurze Reise war! In solchen Stunden spürt man den Atem der
großen Natur und den Herzschlag der Erde.
Und dann die Fischerei, vom Forellenangeln im kleinen Schwarzwaldbach
bis zu den Fischzügen auf dem Meer! Der Hechtfang in den lothringischen
Seen, das Felchenschnellen in der Schweiz, die Thunfischjagd auf dem Adriatischen Meer und der stille Karpfenzug in Teichen und Wallgräben der Heimat!
Mir schlägt das Herz, wenn ich daran denke. Welche Reihe prachtvoller Tage,
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zugebracht in Wasserstiefeln im Tümpel eines Bachs, verborgen im Uferlaub
eines stillen Flüßchens, barfuß im feuchten Rain oder behaglich rauchend in
den Barken fremder Fischerdörfer!
Und die langen, traumhaft stillen, heißen Tage, die ich an sandigen Mee-
rufern einsam verschlief, verträumte, verstaunte, in Sand und Wasser schmo-
rend, die Zigarre im Mund und den Drahtkorb neben mir, der sich langsam mit
mühelos gefangener kleiner Seebeute füllte. Da war auf Stunden kein Mensch,
kein Lärm, kein Gelächter oder Gespräch, nichts als die Weite von Luft und
Meer, die große ruhige Bläue, fern die dunkel dahinfahrenden Schiffe und ich damitten, gebannt und wunschlos einer stillen Gegenwart dahingegeben, in
wunderlichen Gesprächen mit sor aqua. Da hörte, sah und erlebte ich Märchen, die alle Dichterphantasie überstiegen, belauschte das geheimnisvolle Leben
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