Die Erzaehlungen 1900-1906
altgewordenes und eigensinniges Herz, daß
es zuweilen sich selbst überwindet und Gutes statt Bösem tut.
Dies alles sind keine Theorien und keine Schwärmereien; Verzückung und
Aberglaube haben nichts damit zu tun, so wenig als die fröhliche Frömmigkeit meiner Mutter Schwärmerei gewesen ist. Sie war vielmehr das Realste, was es
geben kann, nämlich die beglückende Macht eines starken, liebevollen Gemü-
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tes, das die Fäden seines Lebens und Mitgefühls über Tag und Nähe hinaus
dem Ewigen verbunden wissen will.
Das ist in wenig Strichen ihr Bildnis, wie es mir vor Augen steht. Sie war
nicht die leidenschaftlichste, aber die mächtigste und edelste Liebe meines
langen Lebens, trotz Freundschaft und Frauendienst, und ihr gebührt das
erste Blatt meiner Erinnerungen. Wenn ich aus so vielen Verirrungen und Lei-
denschaften immer wieder den Weg zu meinem gesunden Selbst zurückfand,
so danke ich es ihr. Und wenn ich trotz aller Eigenliebe und Sonderlichkeit
ein leidlich gesitteter Mensch geblieben und noch der Liebe zu meinen Mit-
menschen fähig hin, ist es auch ihr Verdienst.
Außer jenen schon beschriebenen besitze ich noch ein viertes Bild von der
Seligen. Das hängt nicht an der Wand, sondern ruht wohlverwahrt in einer
eigenen kleinen Mappe und wird von mir nur selten und in feierlichen Stunden hervorgenommen. Etwa wenn ich stärker als sonst die Leiden des Greisenalters spüre und die stille Erscheinung des Schnitters Tod an mir vorübergeht. Es
ist eine kleine Zeichnung von der Hand meines Vaters. Auf einigen nur leicht angedeuteten Kissen liegt die Mutter mit geschlossenen Augen tot, und über
den schönen schmalen Zügen ruht Gottes Friede rein und wunderbar. Ich
habe dies heilige Bild in Ehren gehalten und nicht durch die Gewohnheit
häufiger Betrachtung entweiht. Es ruht still in seiner Mappe und Lade als ein sicherer Schatz, und ich habe es nie jemandem gezeigt. Wenn ich es je und
je einmal ansehe, so ist es in feiertäglicher Stimmung. Dann aber ist mir, sie ruhe wirklich vor meinen Augen und warte mit stiller Gewißheit auf mich, der ich noch für Augenblicke diesseits weile . . .
Nun will ich noch ohne Zusammenhang einige Erinnerungen festzuhalten
versuchen, die mir meine liebe Mutter in besonders klarem Lichte zeigen, kleine und wenig wichtige Erlebnisse und Szenen, die mir aber teuerer sind als das
Gedächtnis mancher größeren, später und ohne sie erlebten Dinge.
Ein Gespräch
Ich war zwanzig Jahre alt, hatte ein wenig Schelling gelesen, freilich noch
mehr Romane und Schauspiele, und stritt gelegentlich mit der Mutter über
Gegenstände ihres Glaubens. So auch an einem wundervollen Sommerabend
im Garten. Der Vater saß lesend auf seiner Bank, indes ich mit allem Stolz
eines jungen Philosophen gegen die Mutter meinen Unglauben ins Feld führte.
Sie hörte meine Prahlereien geduldig an, bis ich schließlich sagte:
Und wenn
es auch diese Art von Unsterblichkeit gäbe, was soll sie mir? Ich verzichte
darauf!
Es war mein stärkster Satz, und ich war doch etwas bange, wie ihn
die liebe Frau aufnehmen würde . . .
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Aber siehe da, sie lachte.
Mein bester junger Herr , sagte sie mit Zu-
versicht,
du bist wie einer, der während des Frühstücks aufs Mittagessen
verzichten kann. Wenn er aber ein paar Stunden gehungert hat, kommt er
still gegangen und ist froh, wenn er noch etwas kalte Küche vorfindet. Und
wenn du auch dabei beharren und mit Gewalt verzichten wolltest, es hülfe dir nichts. In diesem deinem Leibe steckt nun einmal etwas, das weiterleben muß
– du magst wollen oder nicht!
Ein Traum
Meine Mutter erzählte: Ich hatte heute nacht einen Traum. Unser Heiland
ging mit mir eine lange stille Landstraße entlang, die langsam immer aufwärts führte und schließlich höher als alle Berge hinlief.
Du willst doch mit mir in den Himmel kommen?
sagte er freundlich.
O ja , sagte ich und war froh; denn vor uns stand ein schöner großer
Garten mit einem Heckenzaun und einem Gatter dran, und ich wußte, daß
das der Himmel war.
Aber kannst du auch schön singen?
fragte der Heiland.
Ohne das kannst
du nicht hereinkommen!
Da mußte ich ihm ein Lied vorsingen. Und ich sang also auch, aber keinen
Choral, sondern eines von den Mozartschen. Er war zufrieden.
Du singst ganz gut , sagte er.
Warte jetzt nur ein klein wenig, ich muß
vorher noch hineingehen und nach etwas sehen; aber ich komme bald und hole
dich ab.
Er ging durchs Gatter und
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