Die Erzaehlungen 1900-1906
einzige Bewirtung. Nur ein ältlicher Buchdrucker,
den mein Vater sehr hoch schätzte, verlangte jedesmal einen Bissen Brot oder Zwieback dazu, da er
den Wein nicht so trocken hinuntertrinken könne . Ich
kleiner Bursche wurde zu Bett gebracht, ehe die Gäste kamen. Dann ertönte
nach einer Weile das kleine Klavier des Vaters, das mich trotz seines mageren Tones mächtig anzog. Und dann plötzlich erhob sich über die verschlungenen Töne des Instruments die Stimme meiner Mutter, klar, mächtig, weich
und voll wie ein warmer Strom von Liebe und Schönheit. Ich stiller Lauscher
lag in mein Bettlein gekauert, ohne Regung vor atemlosem Entzücken, das
mich bei jedem neuen Einsatz wie ein Schauder überrann. Einmal duldete es
mich vor Wonne nicht länger in den Kissen; ich stand auf, schlich leise durch die Schlafkammer und schmiegte mich im Hemd an die Stubentür, um keinen
Ton zu verlieren. Zufällig ward ich entdeckt, von jenem Buchdrucker zu meiner Beschämung in die Stube gezerrt und von den Eltern ausgescholten. Mama
war ungehalten, mich, der sonst ihr Stolz war, so als unartigen Störenfried
im Hemd vor ihren Gästen stehen zu sehen und verbot mir solche Extrava-
ganzen mit Nachdruck. Der Vater sagte nicht viel dazu, war aber vernünftig
und gestattete mir in der Folge, diesen Singabenden wohlangekleidet als stummer Teilhaber beizuwohnen. Gewiß hat meine Mutter nie einen begeisterteren
Zuhörer gehabt. Ihre Stimme, ein mäßig hoher Sopran, schwebt mir noch jetzt
als etwas beglückend Schönes vornicht nur weil sie meine geliebte Mutter und weil diese Stimme mir Lehrer, Tröster und Prediger war, sondern ebenso ihrer prächtigen Reinheit und Wärme wegen, die in früher Kindheit mein Ohr
verwöhnte und erzog. Meine Mutter sang noch in ihrem fünfzigsten Jahr große
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und schwierige Stücke fast ohne Ermüdung und traf auch schwierige Intervalle stets mit einer selbstverständlichen Sicherheit und Reinheit, an der die gute Schule das wenigste war.
Während der Vater mir manche realen Kenntnisse beibrachte und nament-
lich das Verständnis für bildende Kunst in mir erzog – er war selbst ein vortrefflicher Zeichner und Modelleur –, blieb die Pflege meiner kleinen bildsamen Seele fast ganz der Mutter überlassen. Die Gaben der Phantasie, der treuen
Erinnerung, des musikalischen Gefühls, der Freude an Dichtwerken verdanke
ich ihr und ihr auch das Wenige, was von religiöser Saat in meinem Gemüt
Boden fand. Bei großer Weitherzigkeit und Duldung war sie von einem star-
ken, unwandelbaren Gottesglauben erfüllt, der ihrem Wesen eine besondere,
vielleicht nicht angeborene Milde gab und nicht nur ihr Leben, sondern mehr
und mehr auch ihr Gesicht verklärte und heiligte. In ihren letzten Jahren,
als ihr Haar zu ergrauen begann und die Furchen im Gesicht sich vertieften,
nahm der gütige Zug um den Mund und der unwiderstehlich liebevolle Blick
der braunen großen Augen noch immer zu, als besäße ihre gläubige Seele das
Geheimnis der ewigen Jugend. In der monatelangen Krankheit, die ihrem En-
de voranging und ihr schwere, ununterbrochene Qualen auferlegte, redete sie
nie von sich selbst, klagte selten und nur vor den allernächsten Freunden,
fragte regelmäßig nach allen entfernten Lieben und sorgte sich um sie; dabei war sie von einer so lebendigen Zuversicht erfüllt, daß selbst der Arzt und die gemietete Wärterin sie mit einer Art von Ehrfurcht bewunderten. Es war ihr
ein Kummer, daß ich ihrem Glauben ferne stand, und heute noch würde sie
meine Beichte mit schmerzlichem Lächeln aufnehmen und mich einen Heiden
nennen, obwohl ich ihr das wesentlichste Stück meines Glaubens verdanke.
Der Tod meiner Mutter nämlich und meine späteren Erfahrungen haben mir
den Glauben an die persönliche Fortdauer geschenkt. Als ich die Todesbot-
schaft erhielt, drohte mein ganzes Wesen aus dem Gleichgewicht zu kommen.
Ich konnte mich in den Verlust durchaus nicht finden und lief verstört und
elend umher. Aber da kam, nachdem der erste Jammer sich ausgeweint hatte,
ein so durchdringendes Gefühl von der Existenz und Nähe der Verstorbenen
über mich, daß ich wunderbar getröstet, mein gewohntes Leben wieder auf-
nehmen konnte. Und seither lebt sie mir, unsichtbar wohl, aber geliebt und
liebend, und hat in mancher schweren Stunde ihre Hände über mich gehal-
ten. Ich besitze mehr an ihr als an allen meinen lebenden Freunden, und sie
allein hat noch Macht über mein
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