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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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welche sonst verarmten Leuten die Achtung entzieht. Er wurde noch
    fast zwei Jahrzehnte lang auf der Straße ganz mit dem ehemaligen Respekt
    gegrüßt und bot dem Bürgermeister seine Dose mit derselben scherzhaften
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    Höflichkeit an wie vormals, da er ihn noch allmonatlich einmal zum Souper
    bei sich gesehen hatte. In die häuslichen Entbehrungen aber, in den Mangel
    an Gesellschaft im eigenen Hause, an Bedienung und Equipage, an Raum und
    Komfort fügte er sich schlicht und ohne viel Murren. Und als er im Sommer
    1827 in hohem Alter starb, zeigte sich die Achtung und Anhänglichkeit der
    Bürgerschaft in dem stattlichen Leichengefolge und in der Menge von schönen
    Kränzen, die den Sarg bedeckten. Ja, ein alter Freund hatte dem der Familie
    zugehörigen Ruheplatz auf dem Friedhof einen Raum für zwei Gräber zuge-
    kauft und umgittern lassen.
    Dort ruht er nun, und neben ihm meine Mutter, und schon an jenem Tage,
    da ich als Knabe seiner Beerdigung beiwohnte, tat es mir leid, daß nicht auch ich später einmal daneben würde liegen dürfen. Daß ich selber einmal so alt, ja älter als der verehrte Großvater werden sollte, dachte ich damals nicht.
    Anno 1810 heiratete Charlotte einen hübschen, tüchtigen Schweizer, der sich
    seit kurzem als Kunstdrechsler und Elfenbeinschnitzer in der Stadt niederge-
    lassen hatte. Ich war ihr erstes Kind und bin heute wie damals das einzige, da ich alle meine Geschwister überlebte. Trotz der ungünstigsten Zeitläufe brachte sich mein Vater durch seine Kunstfertigkeit und Erfindungsgabe nicht nur
    durch, sondern legte, als nur erst die schwierigsten Jahre überstanden waren, den Grund zu einem mehr als auskömmlichen Wohlstand. Er war ein feiner und
    kluger Mann, und meine Mutter nahm von den Traditionen ihrer glänzenden
    Jugendzeit so viel ins neue Leben mit, als eben tunlich und erfreulich schi-
    en, und so ward mir das Glück einer überaus heiteren Kindheit zuteil. Durch
    den Großvater und dessen Erzählungen mit der Heimatstadt verwachsen und
    mit dem festigenden Gefühl bürgerlicher Zugehörigkeit versehen, war ich doch nicht durch den Besitz unzähliger Verwandter beängstigt, der gutbürgerliche
    Häuser oft mit einem kleinlichen Familiengeist erfüllt und den Kindern die
    Freiheit der Entfaltung und des Anschlusses an die Mitwelt verkümmert. Die
    Mutter hatte keine Geschwister, der Vater alle Verwandten in weiter Ferne,
    und ich darf sagen, daß der Mangel an Tanten, Onkeln, Cousinen und Cousins
    unserm Hause und mir zu keinem Nachteil geriet.
    Von meinem vierten oder fünften Lebensjahr an kann ich mir das Bild mei-
    ner Mutter aus eigener Erinnerung vorstellen, und dieses Bild hat mit je-
    nen zierlichen Mädchenporträts wenig mehr gemein. Weit näher kommt ihm
    die schöne Kreidezeichnung, die mein Vater anno siebzehn gemacht hat. In
    kräftigen Linien tritt der Umriß des feinen Kopfes heraus, im Profil, von einer Fülle wolligen Haares überwallt, mit leichtem Lächeln nach vorn gesenkt, wie ich sie unzähligemal gesehen habe, wenn sie erzählend und scherzend über einer Näharbeit saß. Das Bildchen, zu dem mein Vater einen hübschen schmalen
    Rahmen geschnitzt hat, hängt in meinem Zimmer und ist von mir, ehe ich die-
    se Zeilen schrieb, lang und aufmerksam betrachtet worden. Darüber geschah
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    es, daß ich die Feder weglegte und im Anschauen des mütterlichen Bildnisses
    verloren, Zeit und Arbeit vergaß. Meine Seele flog ins Reich der Heimat und
    Kinderzeit zurück und badete die bestaubten Flügel in der Flut von Frieden,
    dessen Glanz auch auf den geliebten Zügen des teuren Bildes liegt. Und nun,
    da ich erwache, liegt das rote Licht der Abendsonne im Zimmer, auf Wand,
    Diele und Tisch und auf meinen welken Händen. Wie lang ist das alles her
    – so lang, daß es mir wie eine ferne beglänzte Höhe erscheint, an welcher ich nichts Einzelnes unterscheiden kann und die mich doch mit dem Zauber einer
    mächtigen Sehnsucht anzieht, der ich keine Worte weiß . . .
    Unvergeßlich sind mir die Stunden, in denen ich zuerst den Gesang meiner
    Mutter hörte. Es wurden zuweilen des Abends einige Freunde ins Haus gebe-
    ten, denen ein Glas Wein vorgesetzt ward und mit denen die Eltern plauderten, Bilder besahen und musizierten. Mit den Kränzchen von ehemals hatte das
    nichts mehr zu tun, auch nahm keine einzige Exzellenz oder sonstige Standes-
    person daran teil, vielmehr waren es schlicht häusliche Freundschaftsabende
    und das Gläschen Wein die

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