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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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war fort. Und ich saß nun da mutterseelenallein
    auf einem Prellstein und wartete. Es ging lang, und als mehr denn eine halbe Stunde verging, wurde ich recht ungeduldig.
    Da höre ich jemand auf der Straße laufen. Ich wende mich um, da kommt
    der Herr Lukas Silber dahergelaufen und bleibt vor mir stehen. Er hatte ganz staubige Stiefel, und ich wunderte mich, daß er da war; denn er war ja doch
    von dem Dragoner zu Tod geritten worden.
    Hast du mich lieb, Charlotte?
    fragte er und gab mir die Hand.
    Ich war ganz erschrocken und sagte:
    Nein, Lukas, das ist vorbei! Warum
    bist du mir auch damals untreu geworden? Ich kann dich nie mehr lieb haben!
    – Da ging er langsam weg.
    Gleich darauf hörte ich in dem Garten, der der Himmel war, Schritte her-
    kommen und dachte:
    Nun kommt endlich der Heiland und holt mich ab.
    In-
    dem aber ruft mir, Gott weiß woher, mein Vater, als ob er noch am Leben
    und ganz in der Nähe wäre:
    Lottchen, komm doch schnell herüber; die We-
    stenknöpfe wollen wieder nicht!
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    Ich kann nicht, Papa , rief ich hastig;
    gerade jetzt kommt der Heiland
    und holt mich ab!
    Da kam er denn auch wirklich wieder aus dem Garten hervor und ging auf
    mich zu. Nur schien er mir ein bißchen weniger froh als vorher zu sein.
    Komm jetzt nur!
    sagte er und klopfte mir auf die Schulter. Aber gerade
    vor dem Gatter hält er noch einmal an und sagt:
    Kannst du denn auch schön
    singen?
    Ja , sagte ich,
    du hast mich ja vorhin gehört!
    Ja, wahrhaftig , antwortete er.
    Nun, du könntest immerhin noch einmal
    singen; das schadet nichts.
    Ich besann mich nun, was ich singen sollte, und besann mich immer mehr;
    aber es fiel mir kein einziges Lied ein.
    Es will mir nichts einfallen , sagte ich da.
    Nun , meint der Heiland,
    vielleicht kannst du das Lied: >Blühe, liebes
    Veilchen< singen?
    Das kannte ich nun freilich und war froh. Aber wie ich nun frischweg singen
    will, ist es, als hätte ich einen Brocken im Hals, und ich bringe keinen Ton heraus.
    Wie ist denn das?
    sagte nun der Heiland.
    Ich dachte doch, du könntest
    singen?
    Ich wußte keine Antwort und konnte bloß weinen.
    Was ist denn passiert, solang ich fortgegangen war?
    fragte er wieder und
    sah mich merkwürdig an.
    Nichts , sagte ich.
    Nur der Lukas war einen Augenblick da!
    Und nun
    mußte ich alles genau erzählen, auch daß mein Vater mich gerufen habe.
    Da wurde der Heiland ganz traurig und sprach:
    Nun kann ich dich nicht
    in den Himmel nehmen, du. Wenn ich dir auch den Lukas verzeihe, so hast
    du doch deinen Vater nach dir rufen hören und bist nicht gegangen, ihm zu
    helfen. Wir müssen warten, bis du liebreicher wirst und auch wieder singen
    kannst!
    Auf dem Siebenberg
    Das ist, wenn ich nicht irre, anno einunddreißig gewesen. Ich junger Tunichtgut trug stolz den ersten Schnauzbart und war so lange den hübschen Mädchen
    nachgelaufen, bis ich hängen blieb und in ein zierliches Dämchen von achtzehn Jahren zum Sterben verliebt war. Sie hieß Käthchen Stoll, war brünett und
    schwarzhaarig und hatte große, lebhafte Feueraugen. Meine Anbetung kam
    ihr gelegen; sie duldete mich um sich, ließ gelegentlich merken, daß es später nur einmal auf mich ankäme, um Ernst zu machen, und behandelte mich wie
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    ein Hündlein, das man zum Spaß aufwarten läßt und wieder fortschickt. Diese
    Sache dauerte schon einige Wochen und fing an, mich unleidlich zu quälen.
    Ich dichtete viel und schlief wenig; ich war blaß, scheu und empfindlich wie ein bleichsüchtiger Backfisch und ließ sogar meine sonst täglich gebrauchte
    Angelrute liegen und verstauben.
    Eines Tages nun forderte meine Mutter mich auf, mit ihr spazieren zu gehen.
    Gut, ich ging mit. Zu meiner Verwunderung war sie, sonst durchaus keine
    eifrige Fußgängerin, heute unermüdlich und marschierte viel weiter, als ihre Gewohnheit war. Wir kamen bis zum Fuß des Siebenberges, eines nahe der
    Stadt gelegenen Hügels, den man etwa an schönen Sonntagen aufsuchte. Mir
    schien es nun genug und ich wartete von Augenblick zu Augenblick auf die
    Umkehr: denn ich war scheußlicher Laune und zu keinerlei Gespräch aufgelegt.
    Ich glaube gar, du willst vollends auf den Siebenberg , sagte ich schließlich mürrisch.
    Nun , lachte meine Mutterfröhlich,
    warum denn nicht? Es ist heut ein
    prächtiger Tag!
    In Wirklichkeit war das Wetter windig und zweifelhaft. Wir stiegen langsam
    und schweigend und brauchten fast eine Stunde, bis wir oben waren. Mama
    war denn auch ordentlich müde und mußte

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