Die Erzaehlungen 1900-1906
Wadenstrümpfen, mit Flötenetuis und Violinkästen, mit
den neuesten Almanachen und Romanen um die schöne Tochter. Neben allen
den inzwischen verschollenen Modepiécen wurden die süßen Sonaten Mozarts
gespielt und wurde der Wilhelm Meister, der Titan, der Sternbald und der
Alamontade gelesen. Man trieb, was eben Mode wurde, Kunstgeschichte nicht
weniger als Physik, Theaterspielen so gut wie Schleiermachersche Religion.
Bei allem Tändeln hatte die gut bürgerliche Geselligkeit jener Zeit eine seither völlig verschwundene wirkliche Eleganz, die im Vergleich mit heutigen
Sitten oder Unsitten etwas fast Aristokratisches an sich hatte. Heute ist es guter Ton, daß reiche Leute sich Häuser in einer Art von Bauernstil bauen
lassen, bald mehr englisch, bald mehr norwegisch; damals aber baute man
noch Herrenhäuser, mit großem Entree und Lambris. Man legte Wert auf Ge-
schmack in Kleidung, Sprache, Geste und Haltung – eine Sorgfalt, deren die
heutige Welt zu ihrem Nachteil entraten zu können glaubt.
Meines Großvaters Haus war zwar nicht neu, aber mit seiner Louis-XV Fas-
sade und seinen festlich hohen Räumen herrschaftlich genug. Im Innern gab
es Zimmer mit schweren polierten und eingelegten Möbeln, Büfetts mit impo-
nierender Silbergalerie, Stuben mit schmalen hohen Spiegeln und schlanken,
schweifbeinigen Spieltischen, oval gerahmten Porträts und muschelförmigen
Genrestücken, Schlafgemächer mit hohen gewaltigen Bettladen aus Eichen-
holz, darüber an bronzierten Rahmen blaue Betthimmel hingen, Korrido-
re mit schön geschmiedeten Wandleuchtern, mit Stukkatur am Plafond und
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Büsten auf den Konsolen. Dort bewegten sich neben perückentragenden und
würdevollen Alten junge Herren mit natürlichem Haar, ausschweifend frisier-
te Damen, sauber livrierte Diener und haubentragende Mägde, über allen der
Großvater selbst, den ich wohl bis in mein sechzehntes Jahr gekannt habe und der mir doch nun so alt und sagenhaft erscheint, als hätte ich nur von ihm gelesen oder sein Porträt einmal in einer Galerie des achtzehnten Jahrhunderts gesehen. Er trug einen kurzen gepuderten Zopf, dunkelblaue oder rostbraune
Röcke, dunkle oder auch gelblichweiße Beinkleider, schwarze Wadenstrümpfe
und zierliche Schuhe mit großen silbernen Schnallen.
Dem Umstand, daß meine Mutter anno 1803 eine freilich bald wieder auf-
gelöste Verlobung einging, verdanke ich das Vorhandensein eines zweiten,
besseren Bildnisses, welches für den Bräutigam angefertigt wurde und zwar
kein Meisterwerk, doch auch kein schlechtes Porträt ist. Der Maler war ein
französischer Monsieur Barbéza, der sich als Bildnismaler und Zeichenlehrer
im Lande herum ernährte. Das stark nachgedunkelte Ölbild zeigt meine Mut-
ter in halber Figur, in einen leichten weißen Stoff gekleidet und hoch gegürtet, in der sorgfältig gemalten Hand ein paar Nelken lose haltend. Das Gesicht
der damals Vierundzwanzigjährigen ist klein, vornehm und schön; nament-
lich blicken die etwas großen rehbraunen Augen mit den dunkelblonden, nicht
hohen Brauen noch heute seelenvoll und jugendfrisch aus dem etwas trüb ge-
wordenen Bilde heraus. Das Kinn ist jugendlich weich und hat noch nicht den
energisch schönen Umriß, wie ich ihn an ihr kannte.
Weshalb jene Verlobung zurückgehen mußte, konnte ich nie erfahren. Der
Bräutigam, ein Herr Lukas Silber, war wenig älter als die Braut und aus rei-
chem Hause. Vielleicht zeigte sich schon damals das Vermögen meines Groß-
vaters nicht mehr fest begründet – wenn dieses der Grund zur Trennung war,
so ist sie gewiß für beide kein Unglück gewesen. Lukas Silber kam einige Jah-re später elend genug ums Leben, indem ihn bei Gelegenheit einer großen
Einquartierung ein napoleonischer Dragoner überritt.
Mehr weiß ich von dem Leben im großväterlichen Hause nicht. Im Jahre
1808 brach der Wohlstand des Großvaters plötzlich und unheilbar zusammen.
Die schönen Möbel wurden verkauft, das Haus bald darauf auch, und so hatten
sowohl musikalische als literarische Abendgesellschaften ein Ende. Großvater nahm seine blauen und braunen Kostüme, seine Puderquaste und seinen sil-berbeschlagenen Spazierstock mit und blieb nicht nur der Tracht, sondern
auch dem würdigen Anstand seiner bessern Jahre bis ans Ende treu. Er bezog
ein paar kleine Zimmer bei Freunden und bezwang bis zu seinem Tode durch
die Unwandelbarkeit seines zierlich vornehmen Auftretens die öffentliche Meinung,
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