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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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Bilderfülle nicht heilen kann, was die Heimat krank
    gemacht hat!
    Wir nickten unserem Nigger zu, und jeder von uns meinte es wahrschein-
    lich im Herzen ein wenig besser, gab sich aber Mühe, dem guten Mwamba
    gegenüber jenen häßlichen Ton einzuhalten, in welchem Weiße mit Schwarzen
    in den Kolonien sprechen. Und wir reckten unsere faulen Glieder, schlender-
    ten ein wenig an Deck auf und ab, rieben uns die kühlen Hände und starrten
    dann wieder lange schweigend und mißmutig in die öde Weite, auf den wol-
    lig bewölkten Himmel und das graugläserne, fahl in der Ferne verdämmernde
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    Meer.
    (1905)
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    Das erste Abenteuer
    Sonderbar, wie Erlebtes einem fremd werden und entgleiten kann! Ganze Jah-
    re, mit tausend Erlebnissen, können einem verloren gehen. Ich sehe oft Kinder in die Schule laufen und denke nicht an die eigene Schulzeit, ich sehe Gymnasiasten und weiß kaum mehr, daß ich auch einmal einer war. Ich sehe Maschi-
    nenbauer in ihre Werkstätten und windige Kommis in ihre Büros gehen und
    habe vollkommen vergessen, daß ich einst die gleichen Gänge tat, die blaue
    Bluse und den Schreibersrock mit glänzigen Ellenbogen trug. Ich betrachte in der Buchhandlung merkwürdige Versbüchlein von Achtzehnjährigen, im Verlag Pierson in Dresden erschienen, und ich denke nicht mehr daran, daß ich
    auch einmal derartige Verse gemacht habe und sogar demselben Autorenfänger
    auf den Leim gegangen bin.
    Bis irgend einmal auf einem Spaziergang oder auf einer Eisenbahnfahrt oder
    in einer schlaflosen Nachtstunde ein ganzes vergessenes Stück Leben wieder
    da ist und grell beleuchtet wie ein Bühnenbild vor mir steht, mit allen Kleinigkeiten, mit allen Namen und Orten, Geräuschen und Gerüchen. So ging es mir
    vorige Nacht. Ein Erlebnis trat wieder vor mich hin, von dem ich seinerzeit
    ganz sicher wußte, daß ich es nie vergessen würde, und das ich doch jahrelang spurlos vergessen hatte. Ganz so wie man ein Buch oder ein Taschenmesser
    verliert, vermißt und dann vergißt, und eines Tages liegt es in einer Schublade zwischen altem Kram und ist wieder da und gehört einem wieder.
    Ich war achtzehnjährig und am Ende meiner Lehrzeit in der Maschinenschlos-
    serei. Seit kurzem hatte ich eingesehen, daß ich es in dem Fache doch nicht
    weit bringen würde, und war entschlossen, wieder einmal umzusatteln. Bis
    sich eine Gelegenheit böte, dies meinem Vater zu eröffnen, blieb ich noch im Betrieb und tat die Arbeit halb verdrossen, halb fröhlich wie einer, der schon gekündigt hat und alle Landstraßen auf sich warten weiß.
    Wir hatten damals einen Volontär in der Werkstatt, dessen hervorragendste
    Eigenschaft darin bestand, daß er mit einer reichen Dame im Nachbarstädt-
    chen verwandt war. Diese Dame, eine junge Fabrikantenwitwe, wohnte in einer
    kleinen Villa, hatte einen eleganten Wagen und ein Reitpferd und galt für
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    hochmütig und exzentrisch, weil sie nicht an den Kaffeekränzchen teilnahm
    und statt dessen ritt, angelte, Tulpen züchtete und Bernhardiner hielt. Man
    sprach von ihr mit Neid und Erbitterung, namentlich seit man wußte, daß sie
    in Stuttgart und München, wohin sie häufig reiste, sehr gesellig sein konnte.
    Dieses Wunder war, seit ihr Neffe oder Vetter bei uns volontierte, schon
    dreimal in der Werkstatt gewesen, hatte ihren Verwandten begrüßt und sich
    unsere Maschinen zeigen lassen. Es hatte jedesmal prächtig ausgesehen und
    großen Eindruck auf mich gemacht, wenn sie in feiner Toilette mit neugierigen Augen und drolligen Fragen durch den rußigen Raum gegangen war, eine große
    hellblonde Frau mit einem Gesicht so frisch und naiv wie ein kleines Mädchen.
    Wir standen in unseren öligen Schlosserblusen und mit unseren schwarzen
    Händen und Gesichtern da und hatten das Gefühl, eine Prinzessin habe uns
    besucht. Zu unseren sozialdemokratischen Ansichten paßte das nicht, was wir
    nachher jedesmal einsahen.
    Da kommt eines Tags der Volontär in der Vesperpause auf mich zu und
    sagt:
    Willst du am Sonntag mit zu meiner Tante kommen? Sie hat dich
    eingeladen.
    Eingeladen? Du, mach keine dummen Witze mit mir, sonst steck’ ich dir
    die Nase in den Löschtrog.
    Aber es war Ernst. Sie hatte mich eingeladen auf
    Sonntagabend. Mit dem Zehnuhrzug konnten wir heimkehren, und wenn wir
    länger bleiben wollten, würde sie uns vielleicht den Wagen mitgeben.
    Mit der Besitzerin eines Luxuswagens, der Herrin eines Dieners, zweier
    Mägde, eines Kutschers und eines Gärtners Verkehr

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