Die Erzaehlungen 1900-1906
zu haben, war nach mei-
ner damaligen Weltanschauung einfach ruchlos. Aber das fiel mir erst ein, als ich schon längst mit Eifer zugesagt und gefragt hatte, ob mein gelber Sonn-tagsanzug gut genug sei.
Bis zum Samstag lief ich in einer heillosen Aufregung und Freude herum.
Dann kam die Angst über mich. Was sollte ich dort sagen, wie mich benehmen,
wie mit ihr reden? Mein Anzug, auf den ich immer stolz gewesen war, hatte auf einmal so viele Falten und Flecken, und meine Krägen hatten alle Fransen am
Rand. Außerdem war mein Hut alt und schäbig, und alles das konnte durch
meine drei Glanzstücke – ein Paar nadelspitze Halbschuhe, eine leuchtend rote, halbseidene Krawatte und einen Zwicker mit Nickelrändern – nicht aufgewogen
werden.
Am Sonntagabend ging ich mit dem Volontär zu Fuß nach Settlingen, krank
vor Aufregung und Verlegenheit. Die Villa ward sichtbar, wir standen an einem Gitter vor ausländischen Kiefern und Zypressen, Hundegebell vermischte sich
mit dem Ton der Torglocke. Ein Diener ließ uns ein, sprach kein Wort und
behandelte uns geringschätzig, kaum daß er geruhte, mich vor den großen
Bernhardinern zu schützen, die mir an die Hose wollten. Ängstlich sah ich
meine Hände an, die seit Monaten nicht so peinlich sauber gewesen waren.
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Ich hatte sie am Abend vorher eine halbe Stunde lang mit Petroleum und
Schmierseife gewaschen.
In einem einfachen, hellblauen Sommerkleid empfing uns die Dame im Salon.
Sie gab uns beiden die Hand und hieß uns Platz nehmen, das Abendessen sei
gleich bereit.
Sind Sie kurzsichtig?
fragte sie mich.
Ein klein wenig.
Der Zwicker steht Ihnen gar nicht, wissen Sie.
Ich nahm ihn ab, steckte
ihn ein und machte ein trotziges Gesicht.
Und Sozi sind Sie auch?
fragte sie weiter.
Sie meinen Sozialdemokrat? ja, gewiß.
Warum eigentlich?
Aus Überzeugung.
Ach so. Aber die Krawatte ist wirklich nett. Na, wir wollten essen. Ihr
habt doch Hunger mitgebracht?
Im Nebenzimmer waren drei Couverts aufgelegt. Mit Ausnahme der dreierlei
Gläser gab es wider mein Erwarten nichts, was mich in Verlegenheit brachte.
Eine Hirnsuppe, ein Lendenbraten, Gemüse, Salat und Kuchen, das waren
lauter Dinge, die ich zu essen verstand, ohne mich zu blamieren. Und die
Weine schenkte die Hausfrau selber ein. Während der Mahlzeit sprach sie fast nur mit dem Volontär, und da die guten Speisen samt dem Wein mir angenehm
zu tun gaben, wurde mir bald wohl und leidlich sicher zumute.
Nach der Mahlzeit wurden uns die Weingläser in den Salon gebracht, und
als mir eine feine Zigarre geboten und zu meinem Erstaunen an einer rot und
goldenen Kerze angezündet war, stieg mein Wohlsein bis zur Behaglichkeit.
Nun wagte ich auch die Dame anzusehen, und sie war so fein und schön, daß
ich mich mit Stolz in die seligen Gefilde der noblen Welt versetzt fühlte, von der ich aus einigen Romanen und Feuilletons eine sehnsüchtig vage Vorstellung gewonnen hatte.
Wir kamen in ein ganz lebhaftes Gespräch, und ich wurde so kühn, daß
ich über Madames vorige Bemerkungen, die Sozialdemokratie und die rote
Krawatte betreffend, zu scherzen wagte.
Sie haben ganz recht , sagte sie lächelnd.
Bleiben Sie nur bei Ihrer
Überzeugung. Aber Ihre Krawatte sollten sie weniger schief binden. Sehen
Sie, so –
Sie stand vor mir und bückte sich über mich, faßte meine Krawatte mit bei-
den Händen und rückte an ihr herum. Dabei fühlte ich plötzlich mit heftigem
Erschrecken, wie sie zwei Finger durch meine Hemdspalte schob und mir leise
die Brust betastete. Und als ich entsetzt aufblickte, drückte sie nochmals mit den beiden Fingern und sah mir dabei starr in die Augen.
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O Donnerwetter, dachte ich, und bekam Herzklopfen, während sie zurück-
trat und so tat, als betrachte sie die Krawatte. Statt dessen aber sah sie mich wieder an, ernst und voll, und nickte langsam ein paarmal mit dem Kopf.
Du könntest droben im Eckzimmer den Spielkasten holen , sagte sie zu
ihrem Neffen, der in einer Zeitschrift blätterte.
ja, sei so gut.
Er ging und sie kam auf mich zu, langsam, mit großen Augen.
Ach du!
sag-
te sie leise und weich.
Du bist lieb.
Dabei näherte sie mir ihr Gesicht, und unsre Lippen kamen zusammen,
lautlos und brennend, und wieder, und noch einmal. Ich umschlang sie und
drückte sie an mich, die große schöne Dame, so stark, daß es ihr weh tun
mußte. Aber sie suchte nur nochmals meinen Mund, und während sie küßte,
wurden ihre Augen feucht und
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