Die Erzaehlungen 1900-1906
das Blut zu Kopfe.
Geküßt! Das war freilich schon was anderes als die faden Gespräche und scheu-en Händedrücke, die sonst als höchste Wonnen des Mädleführens gepriesen
wurden. Geküßt! Das war ein Ton aus einer fremden, verschlossenen, scheu
geahnten Welt, das hatte den leckeren Duft der verbotenen Früchte, das hatte etwas Heimliches, Poetisches, Unnennbares, das gehörte in jenes dunkelsüße,
schaurig lockende Gebiet, das von uns allen verschwiegen, aber ahnungsvoll
gekannt und streifweise durch sagenhafte Liebesabenteuer ehemaliger, von der Schule verwiesener Mädchenhelden beleuchtet war. Der
Nordkaffer
war ein
vierzehnjähriger, Gott weiß wie zu uns verschlagener Hamburger Schuljun-
ge, den ich sehr verehrte und dessen fern der Schule blühender Ruhm mich
oft nicht schlafen ließ. Und Emma Meier war unbestritten das hübscheste
Schulmädchen von Gerbersau, blond, flink, stolz und so alt wie ich.
Von jenem Tage an wälzte ich Pläne und Sorgen in meinem Sinn. Ein
Mädchen zu küssen, das übertraf doch alle meine bisherigen Ideale, sowohl
an sich selbst, als weil es ohne Zweifel vom Schulgesetz verboten und verpönt war. Es wurde mir schnell klar, daß der solenne Minnedienst der Eisbahn hier-zu die einzige gute Gelegenheit sei. Zunächst suchte ich denn mein Äußeres
nach Vermögen hoffähiger zu machen. Ich wandte Zeit und Sorgfalt an meine
Frisur, wachte peinlich über die Sauberkeit meiner Kleider, trug die Pelzmütze manierlich halb in der Stirn und erbettelte von meinen Schwestern ein rosenrot seidenes Foulard. Zugleich begann ich auf dem Eise die etwa in Frage kommenden Mädchen höflich zu grüßen und glaubte zu sehen, daß diese ungewohnte
Huldigung zwar mit Erstaunen, aber nicht ohne Wohlgefallen bemerkt wurde.
Viel schwerer wurde mir die erste Anknüpfung, denn in meinem Leben hat-
te ich noch kein Mädchen
engagiert . Ich suchte meine Freunde bei die-
ser ernsten Zeremonie zu belauschen. Manche machten nur einen Bückling
und streckten die Hand aus, andere stotterten etwas Unverständliches hervor, weitaus die meisten aber bedienten sich der eleganten Phrase:
Hab’ ich die
Ehre?
Diese Formel imponierte mir sehr, und ich übte sie ein, indem ich zu
Hause in meiner Kammer mich vor dem Ofen verneigte und die feierlichen
Worte dazu sprach.
Der Tag des schweren ersten Schrittes war gekommen. Schon gestern hatte
ich Werbegedanken gehabt, war aber mutlos heimgekehrt, ohne etwas gewagt
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zu haben. Heute hatte ich mir vorgenommen, unweigerlich zu tun, was ich
so sehr fürchtete wie ersehnte. Mit Herzklopfen und todbeklommen wie ein
Verbrecher ging ich zur Eisbahn, und ich glaube, meine Hände zitterten beim
Anlegen der Schlittschuhe. Und dann stürzte ich mich in die Menge, in wei-
tem Bogen ausholend, und bemüht, meinem Gesicht einen Rest der gewohnten
Sicherheit und Selbstverständlichkeit zu bewahren. Zweimal durchlief ich die ganze lange Bahn im eiligsten Tempo, die scharfe Luft und die heftige Bewegung taten mir wohl.
Plötzlich, gerade unter der Brücke, rannte ich mit voller Wucht gegen je-
manden an und taumelte bestürzt zur Seite. Auf dem Eise aber saß die schöne
Emma, offenbar Schmerzen verbeißend, und sah mich vorwurfsvoll an. Vor
meinen Blicken ging die Welt im Kreise.
Helft mir doch auf!
sagte sie zu ihren Freundinnen. Da nahm ich, blutrot
im ganzen Gesicht, meine Mütze ab, kniete neben ihr nieder und half ihr
aufstehen.
Wir standen nun einander erschrocken und fassungslos gegenüber, und kei-
nes sagte ein Wort. Der Pelz, das Gesicht und Haar des schönen Mädchens
betäubten mich durch ihre fremde Nähe. Ich besann mich ohne Erfolg auf
eine Entschuldigung und hielt noch immer meine Mütze in der Faust. Und
plötzlich, während mir die Augen wie verschleiert waren, machte ich mecha-
nisch einen tiefen Bückling und stammelte:
Hab’ ich die Ehre?
Sie antwortete nichts, ergriff aber meine Hände mit ihren feinen Fingern,
deren Wärme ich durch den Handschuh hindurch fühlte, und fuhr mit mir da-
hin. Mir war zumute wie in einem sonderbaren Traum. Ein Gefühl von Glück,
Scham, Wärme, Lust und Verlegenheit raubte mir fast den Atem. Wohl eine
Viertelstunde liefen wir zusammen. Dann machte sie an einem Halteplatz leise die kleinen Hände frei, sagte
Danke schön
und fuhr allein davon, während
ich verspätet die Pelzkappe zog und noch lange an derselben Stelle stehen
blieb. Erst später fiel mir ein, daß sie während
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