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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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dich in tausend Bildern,
    Maria, lieblich ausgedrückt,
    Doch keins von allen kann dich schildern,
    Wie meine Seele dich erblickt.
    Ich weiß nur, daß der Welt Getümmel
    Seitdem mir wie ein Traum verweht
    Und ein unnennbar süßer Himmel
    Mir ewig im Gemüte steht.
    Meine Chronik geht zu Ende, und ich hätte sie am liebsten mit den lieben
    Versen jenes schönen Marienliedes beschlossen. Ich muß aber noch berichten,
    daß schon nach drei Monaten Marias Hochzeit war. Gustav reiste mit ihr in
    die Schweiz und führte sie im Spätherbst nach Deutschland mit sich.
    Ich hatte indessen längst von Florenz und von Maria Abschied genommen
    und mir von Geltner den Novalis als Andenken erbeten, den er mir gerne
    überließ. Seither ist er in meinem Besitz geblieben, hat mich auf mancher
    Reise begleitet und steht jetzt in meiner Romantikersammlung eingereiht,
    gerade zwischen den Gedichten der Sophie Mereau und den Werken des Malers
    Philipp Otto Runge.
    Es war meine Schuld, daß zwischen Gustav Merkel und mir eine Entfrem-
    dung eintrat, zu der die räumliche Trennung noch beitrug. Wenigstens brachte ich es nicht über mich, damals seine Briefe zu beantworten, so daß auch er
    müde wurde und schwieg.
    Doch dauerte das nur anderthalb Jahre. Dann geschah das Schreckliche, daß
    die schöne Maria mitten im Glücke auf einer sommerlichen Gondellustfahrt
    verunglückte und umkam. Da kam Gustav zu mir, und wir haben seither die
    Erinnerung an sie und an jene Florentiner Zeiten und an alles Teure unse-
    rer allmählich in die Ferne entrückten Jugendzeiten brüderlich miteinander
    geteilt.
    (um 1900)
    35
    Der Kavalier auf dem Eise
    Damals sah mir die Welt noch anders aus. Ich war zwölfeinhalb Jahre alt
    und noch mitten in der vielfarbigen, reichen Welt der Knabenfreuden und
    Knabenschwärmereien befangen. Nun dämmerte schüchtern und lüstern zum
    ersten Male das weiche Ferneblau der gemilderten, innigeren Jugendlichkeit
    in meine erstaunte Seele.
    Es war ein langer, strenger Winter, und unser schöner Schwarzwaldfluß lag
    wochenlang hart gefroren. Ich kann das merkwürdige, gruseligentzückte Gefühl nicht vergessen, mit dem ich am ersten bitterkalten Morgen den Fluß betrat,
    denn er war tief und das Eis war so klar, daß man wie durch eine dünne Glas-
    scheibe unter sich das grüne Wasser, den Sandboden mit Steinen, die phanta-
    stisch verschlungenen Wasserpflanzen und zuweilen den dunklen Rücken eines
    Fisches sah.
    Halbe Tage trieb ich mich mit meinen Kameraden auf dem Eise herum,
    mit heißen Wangen und blauen Händen, das Herz von der starken rhyth-
    mischen Bewegung des Schlittschuhlaufs energisch geschwellt, voll von der
    wunderbaren gedankenlosen Genußkraft der Knabenzeit. Wir übten Wettlauf,
    Weitsprung, Hochsprung, Fliehen und Haschen, und diejenigen von uns, die
    noch die altmodischen beinernen Schlittschuhe mit Bindfaden an den Stiefeln
    befestigt trugen, waren nicht die schlechtesten Läufer. Aber einer, ein Fabri-kantensohn, besaß ein Paar
    Halifax , die waren ohne Schnur oder Riemen
    befestigt und man konnte sie in zwei Augenblicken anziehen und ablegen. Das
    Wort Halifax stand von da an jahrelang auf meinem Weihnachtswunschzettel,
    jedoch erfolglos; und als ich zwölf Jahre später einmal ein Paar recht feine und gute Schlittschuhe kaufen wollte und im Laden Halifax verlangte, da ging mir zu meinem Schmerz ein Ideal und ein Stück Kinderglauben verloren, als man
    mir lächelnd versicherte, Halifax sei ein veraltetes System und längst nicht mehr das Beste.
    Am liebsten lief ich allein, oft bis zum Einbruch der Nacht. Ich sauste dahin, lernte im raschesten Schnellauf an jedem beliebigen Punkte halten oder wenden, schwebte mit Fliegergenuß balancierend in schönen Bogen. Viele von mei-
    nen Kameraden benutzten die Zeit auf dem Eise, um den Mädchen nachzulau-
    fen und zu hofieren. Für mich waren die Mädchen nicht vorhanden. Während
    36
    andere ihnen Ritterdienste leisteten, sie sehnsüchtig und schüchtern umkrei-
    sten oder sie kühn und flott in Paaren führten, genoß ich allein die freie Lust des Gleitens. Für die
    Mädelesführer
    hatte ich nur Mitleid oder Spott. Denn
    aus den Konfessionen mancher Freunde glaubte ich zu wissen, wie zweifelhaft
    ihre galanten Genüsse im Grunde waren.
    Da, schon gegen Ende des Winters, kam mir eines Tages die Schülerneuigkeit
    zu Ohren, der Nordkaffer habe neulich abermals die Emma Meier beim Schlitt-
    schuhausziehen geküßt. Die Nachricht trieb mir plötzlich

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