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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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Körperchen sah unscheinbar aus, so dürftig und flach, und
    vom Gesicht war die untere Hälfte ebenfalls traurig, kümmerlich anzusehen,
    uralt und zugleich doch kinderhaft. Aber auf Nase und Stirn und Augenlidern
    lag etwas Schönes und Würdiges, über dem weißen, faden Wachs der star-
    ren Haut schimmerte es magisch beseelt. Die feinen, alabasternen Schläfen,
    bläulich unterlaufen, und die Stirnwölbung hatten ein wunderliches Licht, das ich anstarrte, ohne zu wissen, ob es mich anziehe oder abstoße.
    Zu Ehren des Toten waren nebenan auf einem Tische einige Zeichnungen von
    ihm aufgelegt. Ehe ich sie betrachtete, blickte ich noch einmal scheu auf die weißen, kleinen Knochenhändchen, die diese Striche noch vor Tagen gezogen
    hatten. Ich brachte es nicht fertig, die Blätter anzufassen, so wenig wie ich den Toten selbst hätte berühren können. Das Ganze, was ich da erlebte, war
    ein schreckliches Gemisch von Größe und Widrigkeit, von Anklang an Gott
    und Ewigkeit und elendem Los der Kreatur, es schmeckte bitter und giftig,
    man konnte es nicht lange ertragen. Die Zeichnungen lenkten ab, ich blieb
    eine Weile vor ihnen stehen. Es war eine geharnischte Germania auf einem der Blätter gezeichnet, auf einem anderen eine romantische Schloßruine im Wald,
    aber ich hatte jetzt wenig Aufmerksamkeit für sie, sie waren wertlos geworden, man würde sie aufbewahren und zeigen, und dann vergessen.
    Ich lief nach Hause, sobald ich mich hatte losmachen können, es war Abend,
    ich ging in den Garten, ich roch an den Kapuzinern und Levkojen, um den
    Todesgeruch loszuwerden, und hatte, bis es nach Tagen verklungen war, ein
    Gefühl, wie wenn etwas Kleines, ein Zahn oder Knöchlein, in meinem Leibe
    morsch geworden und ins Bröckeln geraten wäre. Plötzlich aber gelang es mir, das ganze Erlebnis für eine lange Zeit vollkommen zu vergessen.
    (1901)
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    Der Hausierer
    Der krumme alte Hausierer, ohne den ich mir die Falkengasse und unser
    Städtchen und meine Knabenzeit nicht denken kann, war ein rätselhafter
    Mensch, über dessen Alter und Vergangenheit nur dunkle Vermutungen im
    Umlauf waren. Auch sein bürgerlicher Name war ihm seit Jahrzehnten ab-
    handen gekommen, und schon unsre Väter hatten ihn nie anders als mit dem
    mythischen Namen Hotte Hotte Putzpulver gerufen.
    Obwohl das Haus meines Vaters groß, schön und herrschaftlich war, lag es
    doch nur zehn Schritt von einem finsteren Winkel entfernt, in welchem einige der elendesten Armutsgassen zusammenliefen. Wenn der Typhus ausbrach, so
    war es gewiß dort; wenn mitten in der Nacht sich betrunkenes Schreien und
    Fluchen erhob und die Stadtpolizei zwei Mann hoch langsam und ängstlich
    sich einfand, so war es dort; und wenn einmal ein Totschlag oder sonst etwas Grausiges geschah, so war es auch dort. Namentlich die Falkengasse, die engste und dunkelste von allen, übte stets einen besonderen Zauber auf mich aus und zog mich mit gewaltigem Reize an, obwohl sie von oben bis unten von lauter
    Feinden bewohnt war. Es waren sogar die gefürchtetsten von ihnen, die dort
    hausten. Man muß wissen, daß in Gerbersau seit Menschengedenken zwischen
    Lateinern und Volksschülern Zwiespalt und blutiger Hader bestand, und ich
    war natürlich Lateiner. Ich habe in jener finsteren Gasse manchen Steinwurf
    und manchen bösen Hieb auf Kopf und Rücken bekommen und auch manchen
    ausgeteilt, der mir Ehre machte. Namentlich dem Schuhmächerle und den
    beiden langen Metzgerbuben zeigte ich öfters die Zähne, und das waren Gegner von Ruf und Bedeutung.
    Also in dieser schlimmen Gasse verkehrte der alte Hotte Hotte, so oft er mit seinem kleinen Blechkarren nach Gerbersau kam, was sehr häufig geschah. Er
    war ein leidlich robuster Zwerg mit zu langen und etwas verbogenen Gliedern
    und dummschlauen Augen, schäbig und mit einem Anstrich von ironischer
    Biederkeit gekleidet; vom ewigen Karrenschieben war sein Rücken krumm und
    sein Gang trottend und schwer geworden. Man wußte nie, ob er einen Bart
    habe oder keinen, denn er sah immer aus, als wenn er sich vor einer Woche
    rasiert hätte. In jener üblen Gasse bewegte er sich so sicher, als wäre er dort geboren, und vielleicht war er das auch, obwohl er uns immer für einen Frem-43
    den galt. Er trat in all diese hohen finstern Häuser mit den niedrigen Türen, er tauchte da und dort an hochgelegenen Fenstern auf, er verschwand in die
    feuchten, schwarzen, winkligen Flure, er rief und plauderte und fluchte zu allen Erdgeschoß- und

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