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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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der ganzen Zeit kein einziges Wort gesprochen hatte.
    Das Eis schmolz, und ich konnte meinen Versuch nicht wiederholen. Es war
    mein erstes Liebesabenteuer. Aber es vergingen noch Jahre, ehe mein Traum
    sich erfüllte und mein Mund auf einem roten Mädchenmunde lag.
    (1901)
    38
    Erlebnis in der Knabenzeit
    Der Schlosser Mohr, Hermann Mohrs Vater, den wir Mohrle nannten, wohnte
    am Eingang der Badgasse in einem alten, merkwürdigen und etwas finsteren
    Hause, zu dem ein steiler, gepflasterter Aufstieg und dann noch einige Stufen aus rotem Sandstein hinanführten. Neben dem Tor der Schlosserwerkstatt, die
    ich nie betreten habe, führte dicht hinter der Haustür eine steile, enge Treppe zur Wohnung hinauf, und auch diese Haustür, diese steile Treppe und diese
    Wohnung habe ich nur ein einzigesmal betreten, es ist lange her. Denn seit
    Jahrzehnten ist die Familie Mohr aus meiner Vaterstadt weggezogen und ver-
    schwunden, und auch ich selber bin seit Jahrzehnten fort und fremd geworden, und die dortigen Dinge, Bilder und Ereignisse, gehören der fernen Vorwelt der Jugend und der Erinnerungen an. In Jahrzehnten habe ich Tal und Stadt nur
    wenigemal für wenige Stunden wiedergesehen, aber nie mehr ist eine andere
    Stadt in den Ländern, in denen ich seither gewohnt habe und gereist bin, mir so bekannt geworden; noch immer ist die Vaterstadt für mich Vorbild, Urbild
    der Stadt, und die Gassen, Häuser, Menschen und Geschichten dort Vorbild
    und Urbild aller Menschenheimaten und Menschengeschicke. Lerne ich in der
    Fremde Neues kennen, eine Gasse, ein Tor, einen Garten, einen alten Mann,
    eine Familie, so wird das Neue mir erst in dem Augenblick wirklich und voll
    lebendig, wo irgendetwas an ihm mich, sei es noch so leise und hauchdünn, an das Dort und Damals erinnert.
    Die Familie Mohr war mir nicht eigentlich bekannt. Was ich kannte, das war
    ihr Haus, vielmehr das Äußere ihres Hauses, mit dem steilen Aufstieg, dessen Pflastersteine wenig Sonne sahen und immer etwas feucht und finster waren.
    Da war die offenstehende Werkstatt, manchmal sah man hinten durch ihre
    Schwärze ein kleines Schmiedefeuer sprühen und hörte den schönen vollen Ton
    des Ambosses, und außen am Hause standen Bündel von dünnen Eisenstangen
    schräg angelehnt, so wie beim Wagner die geschälten Eschenstämme standen,
    und es roch hier winklig und streng, etwas nach Feuchte und Stein, etwas nach Ruß und Eisen, und etwas nach Haarwasser und Pomade, von dem kleinen
    Friseurladen her, der etwas tiefer daneben lag, und wo ich alle Halbjahr das Haar geschoren bekam.
    Weiter kannte ich von den Mohrs die drei Söhne. Sie galten alle für gescheit 39
    und aufgeweckt, einer war schon in einer Lehre oder studierte, der zweite,
    ein Jahr älter als ich, ging gleich mir in die Lateinschule, und der dritte, Hermann, der Mohrle, gehörte, noch ehe ich ihn kannte, für mich mit zum
    Anblick des Hauses, denn selten kam ich dort vorüber, ohne ihn sitzen und
    irgendwelche Kunstwerke verfertigen zu sehen, er saß entweder hoch über der
    finsteren Gasse, auf der Mauerbrüstung neben seiner Haustür, oder auch ein
    Stockwerk höher am Fenster, ein kleiner, sehr blasser, zart und kränklich aussehender Knabe, mehrere Jahre jünger als ich. Und dieser Mohrle galt für
    noch begabter und merkwürdiger als seine großen Brüder, er schien immer
    zu Hause zu sitzen und immer allein zu sein, und war jederzeit mit zarten,
    sinnreichen Handarbeiten beschäftigt. Namentlich tat er sich als Zeichner hervor, er galt für ein Wunderkind, und man sprach in der Nachbarschaft mit
    Respekt von ihm, obwohl er noch in einer der ersten Schulklassen war. In der Schule wußte man damals nichts von Zeichnen, er hatte sich ohne Lehrer und
    Vorbild auf diese Kunst geworfen, und was ich davon zu sehen bekam, weckte
    jedesmal meine Bewunderung und auch meinen Neid. Manchmal brachte sein
    Bruder eine Zeichnung von ihm mit in die Schule und zeigte sie herum, und
    alle bewunderten sie, und wenn ich ihn auf der Gassenmauer oder oben im
    Eckfenster sitzen und zeichnen sah, dann hatte ich nicht das Zutrauen, hin-
    aufzugehen, mich hinter ihn zu stellen und ihm zuzusehen, wie ich es allzu
    gern gemacht hätte, sondern es schien mir richtig und geboten, die einsame
    Arbeitsamkeit des Wunderkindes zu achten und seine Stille nicht durch Neu-
    gierde zu stören. Wäre er nicht gar so klein gewesen, so hätte ich versucht, ihn zu meinem Freund zu machen. Aber er war vier, fünf Jahre jünger als

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