Die Erzaehlungen 1900-1906
ich, und mochte er auch ein Genie sein, so verbot es mir doch meine Schülerehre,
mich näher mit einem so Kleinen einzulassen. Dennoch liebte ich ihn und
blickte gern hinüber, wenn er so schmächtig und gebückt vor seinem Hau-
se saß und an einer Zeichnung strichelte oder eine seiner vielen erfinderischen Arbeiten auf den Knien liegen hatte, etwa das Speichenrad einer kleinen Ham-mermühle, den Rumpf eines Segelschiffes aus Tannenrinde oder die Hülse einer Schlüsselbüchse. Während wir anderen in Haufen durch die Gassen sprangen,
spielten, Lärm machten und viele Streiche verübten, führte der bleiche, kleine Wundermann abseits mit Griffel, Bleistift, Hammer oder Schnitzmesser sein
besonderes und abgetrenntes Leben, zufrieden, fleißig und nachdenklich wie
ein Alter.
Vielleicht war der kleine Knabe sehr frühreif und war in seiner Seele schon
der Leiden und tiefen Wonnen fähig, welche in jungen Jahren dem Künstler
seine noch unerprobten Kräfte bescheren, und vielleicht glaubte er an eine
glänzende Zukunft, denn trotz seiner Kränklichkeit und Einsamkeit schien er
uns und unsere Spiele weder zu beneiden noch zu entbehren, er war zufrieden.
Etwas später, als in mir die erste Leidenschaft für die Studien und für die
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Dichtkunst wach wurde, dachte ich manchmal an ihn, und wäre jetzt vielleicht wirklich sein Freund geworden, aber da war er schon nicht mehr da.
Bald nämlich umgab sich der Mohrle mit einem noch tieferen Geheimnis
und entrückte sich unserem Umgang und Verständnis noch völliger. Er sollte
nicht die Kämpfe und Enttäuschungen erleben, die auf seinesgleichen warten;
er sollte auch nicht an jenen Scheideweg kommen, vor den jeder Künstler
einmal gestellt wird, wo es zu wählen gilt zwischen Vorteil und Kunst, zwischen Bequemlichkeit und Kunst, zwischen Treue und Verrat, und wo die meisten
untreu werden. Das blieb ihm alles erspart.
Eines Tages fehlte der Mohrle in der Schule, andern Tages fehlte auch sein
Bruder, und am nächsten Tag hörte ich, daß er gestorben sei. Die Nachricht
bewegte mich wunderlich.
Und dann traf ich auf der Gasse seinen Bruder und war sehr in Verlegenheit,
was ich zu ihm sagen solle. Er war nur ein Jahr älter als ich, aber viel reifer und fertiger, ein geschickter und etwas flotter Knabe, und mir zwar nicht an Kinderstube , aber an Auftreten und Anpassung weit überlegen.
Dein Bruder ist ja gestorben , sagte ich zögernd.
Ist es denn wahr?
Er erzählte mir, was für eine Krankheit er gehabt habe und wie und warum
er gestorben sei, es waren Ausdrücke, die ich alle nicht verstand.
Und zuletzt sagte er etwas, was mich bis ins Herz hinein erschreckte und
beängstigte. Er sagte:
Willst du hinaufkommen und ihn sehen?
Er sagte es in einem Ton, aus dem ich erfuhr, daß er mir damit eine Artigkeit und Ehre erweisen wolle. Ach, aber ich wäre am liebsten auf- und davongelaufen, ich hatte noch niemals einen Toten gesehen und begehrte auch nicht
danach. Aber vor dem Blick des älteren Knaben schämte ich mich, ängstlich
oder wehleidig zu scheinen, ich durfte und wollte nicht nein sagen, es hätte ihn vielleicht auch beleidigt, und so ging ich schweigend mit. Ich folgte ihm wie ein Verurteilter über die Gasse und am Brunnen und Friseurladen vorbei, die
schlüpfrigen Pflastersteine hinan, ins Haus und die steile Treppe empor. Das Herz stand mir still vor Angst, und zugleich spürte ich eine grausige Neugierde, es drang lauter Neues, Feindliches, Wildes auf mich ein, aus den kühlen
Worten des Bruders, aus dem Knarren der Treppendielen und am meisten
aus dem Geruch, von dem ich nicht wußte, ob er immer in diesem Hause sei,
oder ob er von einer Arznei herkomme, oder ob es der Geruch des Todes sei.
Es war kein heftiger Geruch, er war herb, essigartig und zog die Kehle etwas zusammen, es schien mir ein fataler, ein böser, liebloser, vernichtender Geruch zu sein, ich roch alles darin voraus, was ich über den Tod und das Sterben
noch nicht wußte. Ich ging immer langsamer, die letzten Stufen der Treppe
machten mir große Mühe.
Jetzt öffnete Mohrles Bruder leise eine Stubentür, und hinter ihm, von der
bösen Macht gezogen, trat ich in die Kammer, wo der kleine Tote aufgebettet
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lag. Da blieben wir stehen, und der Bruder hatte auf einmal Tränen in den
Augen, wollte es verbergen, gab es dann aber auf, und bald lächelte er wieder ein wenig. Ich stand und starrte auf das tote Kind, noch nie hatte ich so etwas gesehen. Das
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