Die Erzaehlungen 1900-1906
wieder alles, bis auf das Wurzelnetzwerk auf einem Lehmweg am Waldrand, hat auf einmal einen Wert, ist köstlich und eine Lust
anzusehen. Jeder Buchenast und jeder fliegende Kiebitz ist schön und erstaunlich, drückt einen Schöpfungsgedanken aus, existiert, lebt, ist da und rechtfertigt durchs bloße Dasein seine Existenz, daß es ein Wunder und eine Freude
ist. Und indem ich daran denke, daß diese Dinge mir alle bald entschwinden
sollen, werden sie mir zu Bildern, verlieren ihre kurzweilige Zufälligkeit und wachsen zu Symbolen, werden Ideen und gewinnen den Ewigkeitswert von
Kunstwerken. Das ist so seltsam und großartig, daß mir darüber die Furcht
und das Jämmerliche meines Zustandes oft für Stunden ganz verloren geht.
Manchmal sehe ich eine weite, vielfältige Landschaft so zusammengefaßt, so
aufs Wesentliche vereinfacht, wie sie vielleicht nur ein großer Maler darstellen könnte. Und manchmal betrachte ich kleines Zeug, Gräser und Insekten, eine
Baumrinde oder einen Kieselstein, und habe nicht weniger große Eindrücke
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davon, ich sehe Farben und studiere sie fast wie ein Maler, ich sehe Körper
und genieße dieses ergreifende Schauen wie ein wertvolles Talent.
Häufig prüfe ich auch mein Bildergedächtnis, und wenn ich dabei auch un-
endlich viel Vergessenes mit Trauer verloren geben muß, so bin ich doch froh darüber, daß ich vieles ungewollt so gut bewahrt habe. Ich kann mir manches
Dorf, durch das ich vor Jahren gewandert bin, noch als ein frisches Bild wieder vorstellen, und manchen Wald und manche schöne Stadt, und ich habe auch
noch einen Tizian und ein paar Antiken und manche andere Kunstwerke un-
verloren im Gedächtnis. Ich weiß noch, wie die Fäden des Löwenzahnsamens
aussehen, wenn sie im Wind segeln, und ich weiß noch von vielen fernen Ju-
gendtagen her, wie damals die Morgensonne in einem Bergbach spiegelte, oder
wie ein Gewitter aufzog, oder wie eine Reihe von Dorfmädchen abends Arm in
Arm in der Gasse flanierte. Wenn das noch so gut sitzt und noch so lebendig
ist, wird auch das, was ich jetzt noch aufnehmen kann, nicht gar so schnell
verloren gehen, denke ich.
Freilich darf ich solche Proben mit meiner Umgebung noch nicht anstellen,
wenn ich nicht mein bißchen Heiterkeit verlieren will. Wenn ich zuweilen meine Frau betrachte, ihre Gestalt, ihr Kleid, ihr Gesicht, ihre Hände, und dann zu grübeln anfange, wie wohl ihr Bildnis später hinter meinen erblindeten Augen leben wird, so verläßt mich alle Vernunft, und mein Schicksal kommt mir
scheußlich dumm, sinnlos und grausam vor.
Aber davon wollte ich Dir nicht schreiben.
Ich will Dir lieber sagen, daß ich Dich und Deine Freundschaft, unsere vie-
len lieben Erinnerungen und alles das, was mir sonst in unzufriedenen Zeiten tröstlich gewesen ist, jetzt noch inniger empfinde und näher mit mir verwandt und verbunden weiß. Ich schaue jetzt, wie Du begreifen wirst, mit einer gewissen Angst nach Dingen aus, die einem erschütterten Leben zu Trost und
neuen Kraftquellen werden können, und ich glaube, es gibt ihrer genug, um
gegen die Verzweiflung aufzukommen. Da ich jetzt blind werden soll, scheint
mir natürlich das Augenlicht und alles mit den Augen Genießbare besonders
wertvoll und herrlich zu sein. Doch weiß ich immerhin, daß es noch anderes
gibt.
Musik treibe ich jetzt gar nicht. Einmal bin ich nicht ruhig genug, dann
beschäftigt mich auch jenes Abschiednehmen zu ausschließlich, und endlich
möchte ich mir das für die Zeit sparen, wo ich es nötiger haben werde. Ich bin ja nur Dilettant und habe recht wenig Kenntnisse auf diesem Gebiet, aber ich kenne doch einiges, das mir auch in bösen Zeiten gut getan hat und teuer war, und das ich dorthinüber mitnehmen werde. Ein paar Sätze von Beethoven und
namentlich auch ein paar Melodien von Schubert – an die denke ich, wie ein
Schlafloser an Mophium denkt.
Außerdem gibt es ja noch so viel Feines und Schönes zu hören, ganz ab-
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gesehen von der Musik. Ich achte darauf jetzt besonders lebhaft. Ich suche
Vögel am Gesang und bekannte Menschen an Gang und Stimme recht sicher
erkennen zu lernen, ich horche nachts auf den Wind und denke mir, daß man
gewiß aus seinem Ton zuweilen Wetter und Jahreszeit heraushören kann. Und
ich freue mich, daß doch manches Angenehme auf Erden nur fürs Ohr und
nicht für das Auge da ist, wie Nachtigallen, Zikaden usw.
Trotz allem beschäftige ich mich freilich vorwiegend mit den
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