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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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Salon, Hedwig öffnete den Flügel und zündete die Lichter an, ihr Bruder
    legte die Zigarette weg und schlug sein Notenheft auf. Dillenius streckte sich in einen niederen Sessel mit Armlehnen und stellte den Rauchtisch neben sich.
    Hedwig nahm abseits beim Fenster Platz.
    Ludwig sagte noch ein paar Worte über den neuen Musiker und seine Sonate.
    Dann war es einen Augenblick ganz stille. Und dann begann er zu spielen.
    Hedwig hörte die ersten Takte aufmerksam an, die Musik berührte sie fremd
    und sonderbar. Ihr Blick hing an Ludwig, dessen dunkles Haar im Kerzenlicht
    zuweilen aufglänzte. Bald aber spürte sie in der ungewohnten Musik einen
    starken und feinen Geist, der sie mitnahm und ihr Flügel gab, daß sie über
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    Klippen und unverständliche Stellen hinweg das Werk begreifen und erleben
    konnte.
    Ludwig spielte, und sie sah eine weite dunkle Wasserfläche in großen Tak-
    ten wogen. Eine Schar von großen, gewaltigen Vögeln kam mit brausenden
    Flügelschlägen daher, urweltlich düster. Der Sturm tönte dumpf und warf
    zuweilen schaumige Wellenkämme in die Luft, die in viele kleine Perlen zer-
    stäubten. In dem Brausen der Wellen, des Windes und der großen Vogelflügel
    klang etwas Geheimes mit, da sang bald mit lautem Pathos bald mit feiner
    Kinderstimme ein Lied, eine innige, liebe Melodie.
    Wolken flatterten schwarz und in zerrissenen Strähnen, dazwischen gin-
    gen wundersame Blicke in golden tiefe Himmel auf. Auf großen Wogen ritten
    Meerscheusale von grausamer Bildung, aber auf kleinen Wellen spielten zarte
    rührende Reigen von Engelbüblein mit komisch dicken Gliedern und mit Kin-
    deraugen. Und das Gräßliche ward vom Lieblichen mit wachsendem Zauber
    überwunden, und das Bild verwandelte sich in ein leichtes, luftiges, der Schwere enthobenes Zwischenreich, wo in einem eigenen, mondähnlichen Lichte ganz
    zarte, schwebende Elfenwesen Luftreigen tanzten und dazu mit reinen, kristallenen, körperlosen Stimmen selig leichte, leidlos verwehende Töne sangen.
    Nun aber wurde es, als seien es nicht mehr die engelhaften Lichtelfen selber, die im weißen Scheine sangen und schwebten, sondern als sei es ein Mensch, der von ihnen erzähle oder träume. Ein schwerer Tropfen Sehnsucht und unstillbares Menschenleid rann in die verklärte Welt des wunschlos Schönen, statt
    des Paradieses erstand des Menschen Traum vom Paradiese, nicht weniger
    glänzend und schön, aber von tiefen Lauten unstillbaren Heimwehs begleitet.
    So wird Menschenlust aus Kinderlust; das faltenlose Lachen ist dahin, die Luft aber ist inniger und schmerzlich süßer geworden.
    Langsam zerrannen die holden Elfenlieder in das Meeresbrausen, das wieder
    mächtig schwoll. Kampfgetöse, Leidenschaft und Lebensdrang. Und mit dem
    Wegrollen einer letzten hohen Woge war das Lied zu Ende. Im Flügel klang
    die Flut in leiser, langsam sterbender Resonanz nach, und klang aus, und
    eine tiefe Stille entstand. Ludwig blieb in gebückter Haltung lauschend sitzen, Hedwig hatte die Augen geschlossen und lehnte wie schlafend im Stuhl.
    Endlich stand Dillenius auf, ging ins Speisezimmer zurück und brachte dem
    Schwager ein Glas Wein.
    Ludwig stand auf, dankte und nahm einen Schluck.
    Nun, Schwager , sagte er,
    was meinst du?
    Zu der Musik? Ja, es war interessant, und du hast wieder großartig ge-
    spielt. Du mußt ja riesig üben.
    Und die Sonate?
    Siehst du, das ist Geschmackssache. Ich bin ja nicht absolut gegen alles
    Neue, aber das ist mir doch zu >originell<. Wagner laß ich mir noch gefallen –
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    –
    Ludwig wollte antworten. Da war seine Schwester zu ihm getreten und legte
    ihm die Hand auf den Arm.
    Laß nur, ja? Es ist ja wirklich Geschmackssache.
    Nicht wahr?
    rief ihr Mann erfreut.
    Was sollen wir streiten? Schwager,
    eine Zigarre?
    Ludwig sah etwas betroffen der Schwester ins Gesicht. Da sah er, daß sie
    von der Musik ergriffen war, und daß sie leiden würde, wenn weiter darüber
    gesprochen würde. Zugleich aber sah er zum erstenmal, daß sie ihren Mann
    schonen zu müssen glaubte, weil ihm etwas fehlte, das für sie notwendig und
    ihr angeboren war. Und da sie traurig schien, sagte er vor dem Weggehen
    heimlich zu ihr:
    Hede, fehlt dir was?
    Sie schüttelte den Kopf.
    Du mußt mir das bald wieder spielen, für mich allein. Willst du?
    Dann
    schien sie wieder vergnügt zu sein, und nach einer Weile ging Ludwig beruhigt heim.
    Sie aber konnte diese Nacht nicht schlafen. Daß ihr Mann sie nicht verstehen könne, wußte sie,

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