Die Erzaehlungen 1900-1906
sichtbaren
Dingen. Was man verlieren soll, schätzt man zehnfach, und was ich jetzt noch in meinem Auge spiegeln und mit dem Auge empfangen und mir zu eigen
machen kann, das nehme ich wie eine Beute mit.
Als ich erfahren hatte, wie es mit mir stehe, und als die anfängliche Be-
täubung vorüber war, kam mir der Gedanke, eine größere Reise zu machen,
vielleicht mit Dir, und noch einmal mit Bewußtsein und mit vollem Hunger
mich an den Schönheiten der Welt zu laben, noch einmal ins Hochgebirg und
noch einmal nach Rom und noch einmal ans Meer zu gehen. Aber ich wäre
doch schon ein Kranker gewesen, es hätte jemand für mich die Fahrpläne
lesen und manche Dinge besorgen müssen, während ich hier noch immer ein
freier Mann bin und keine verdächtige Hilfe brauche. Das kommt alles noch
früh genug. Immerhin hätte ich Dich gern noch einmal recht angesehen, alter
Theo, ehe die wirkliche Dämmerung beginnt. Nicht wahr, Du kommst dann,
mir zuliebe? Jetzt ist es noch zu früh, es ließe sich vor meiner Frau doch nicht verbergen, daß wir ein peinliches Geheimnis haben. Aber sobald ich so weit
bin, daß ich es ihr ohne Jammer sagen kann, mußt du kommen, gelt?
Nun habe ich meine Bitte vom Herzen. Und rede mit niemand davon, sonst
habe ich die Anfragen und Kondolationen auf dem Hals. Es muß noch diese
kleine Weile so aussehen, als sei es mit mir beim alten. Ich habe noch nicht einmal meine Zeitschriften abbestellt, und die Buchhändler schicken mir ihre Novitätenpakete noch wie immer zu.
Nun bin ich wieder ins Aktuelle geraten, und wollte doch nichts, als noch
einmal in alter Weise schriftlich mit Dir plaudern. Falls Du meine Briefe aufbewahrt und zusammengelegt hast, wie ich Deine, muß es ein ganz stattliches
Bündel sein. Es werden auch, hoffe ich, noch recht viele dazu kommen, denn
später kann ich ja dann diktieren. Aber von den manu propria geschriebenen
dürfte es der letzte, und mithin eine Art Autographenrarität sein. Genug denn, Du, und auch heute wieder wie immer treuen Dank für Deine Liebe.
Dein
alter Franz.
(1906)
367
Eine Sonate
Frau Hedwig Dillenius kam aus der Küche, legte die Schürze ab, wusch und
kämmte sich und ging dann in den Salon, um auf ihren Mann zu warten.
Sie betrachtete drei, vier Blätter aus einer Dürermappe, spielte ein wenig
mit einer Kopenhagener Porzellanfigur, hörte vom nächsten Turme Mittag
schlagen und öffnete schließlich den Flügel. Sie schlug ein paar Töne an, eine halbvergessene Melodie suchend, und horchte eine Weile auf das harmonische
Ausklingen der Saiten. Feine, verhauchende Schwingungen, die immer zarter
und unwirklicher wurden, und dann kamen Augenblicke, in denen sie nicht
wußte, klangen die paar Töne noch nach oder war der feine Reiz im Gehör
nur noch Erinnerung.
Sie spielte nicht weiter, sie legte die Hände in den Schoß und dachte. Aber
sie dachte nicht mehr wie früher, nicht mehr wie in der Mädchenzeit daheim
auf dem Lande, nicht mehr an kleine drollige oder rührende Begebenheiten,
von denen immer nur die kleinere Hälfte wirklich und erlebt war. Sie dachte
seit einiger Zeit an andere Dinge. Die Wirklichkeit selber war ihr schwankend und zweifelhaft geworden. Während der halbklaren, träumenden Wünsche
und Erregungen der Mädchenzeit hatte sie oft daran gedacht, daß sie ein-
mal heiraten und einen Mann und ein eigenes Leben und Hauswesen ha-
ben werde, und von dieser Veränderung hatte sie viel erwartet. Nicht nur
Zärtlichkeit, Wärme und neue Liebesgefühle, sondern vor allem eine Sicher-
heit, ein klares Leben, ein wohliges Geborgensein vor Anfechtungen, Zweifeln und unmöglichen Wünschen. So sehr sie das Phantasieren und Träumen geliebt hatte, ihre Sehnsucht war doch immer nach einer Wirklichkeit gegangen, nach einem unbeirrten Wandeln auf zuverlässigen Wegen.
Wieder dachte sie darüber nach. Es war anders gekommen, als sie es sich vor-
gestellt hatte. Ihr Mann war nicht mehr das, was er ihr während der Brautzeit gewesen war, vielmehr sie hatte ihn damals in einem Licht gesehen, das jetzt erloschen war. Sie hatte geglaubt, er sei ihr ebenbürtig und noch überlegen, er könne mit ihr gehen bald als Freund, bald als Führer, und jetzt wollte
es ihr häufig scheinen, sie habe ihn überschätzt. Er war brav, höflich, auch zärtlich, er gönnte ihr Freiheit, er nahm ihr kleine häusliche Sorgen ab. Aber er war zufrieden, mit ihr und mit seinem Leben, mit Arbeit, Essen, ein we-368
nig
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