Die Erzaehlungen 1900-1906
möchte ich so gerne tun. Denn
ich habe Sie lieb, gnädige Frau. Erlauben Sie mir, ausführlich zu sein! Es
ist notwendig, weil Sie mich sonst mißverstehen würden, und es ist vielleicht berechtigt, weil dieser Brief an Sie mein einziger sein wird. Und nun genug der Einleitungen!
Als ich sechzehn Jahre alt war, sah ich mit einer sonderbaren und vielleicht frühreifen Schwermut die Freuden der Knabenzeit mir fremd werden und ver-lorengehen. Ich sah meinen kleinern Bruder Sandkanäle anlegen, mit Lanzen
werfen und Schmetterlinge fangen und beneidete ihn um die Lust, die er da-
bei empfand und an deren leidenschaftliche Innigkeit ich mich noch so gut
erinnern konnte. Mir war sie abhanden gekommen, ich wußte nicht wann und
nicht warum, und an ihre Stelle war, da ich die Genüsse der Erwachsenen noch nicht recht teilen konnte, Unbefriedigtsein und Sehnsucht getreten.
Mit heftigem Eifer, aber ohne Ausdauer trieb ich bald Geschichte, bald Na-
turwissenschaften, machte eine Woche lang alltäglich bis in die Nacht hinein botanische Präparate und tat dann wieder vierzehn Tage lang nichts als Goe-the lesen. Ich fühlte mich einsam und von allen Beziehungen zum Leben wider
meinen Willen abgetrennt, und diese Kluft zwischen dem Leben und mir such-
te ich instinktiv durch Lernen, Wissen, Erkennen zu überbrücken. Zum ersten
Mal begriff ich unsern Garten als einen Teil der Stadt und des Tales, das Tal als einen Einschnitt im Gebirge, das Gebirge als ein deutlich begrenztes Stück der Erdoberfläche.
Zum ersten Mal betrachtete ich die Sterne als Weltkörper, die Formen der
Berge als notwendig entstandene Produkte der Erdkräfte, und zum ersten Mal
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erfaßte ich damals die Geschichte der Völker als einen Teil der Erdgeschichte.
Ausdrücken und mit Namen nennen konnte ich das damals noch nicht, aber
es war in mir und lebte.
Kurz, ich begann in jener Zeit zu denken. Also erkannte ich mein Leben als
etwas Bedingtes und Begrenztes, und damit erwachte in mir jener Wunsch,
den das Kind noch nicht kennt, der Wunsch, aus meinem Leben das möglichst
Gute und Schöne zu machen. Vermutlich erleben alle jungen Leute annähernd
dasselbe, aber ich erzähle es, als wäre es ein ganz individuelles Erleben gewesen, das es ja für mich auch war.
Unbefriedigt und von der Sehnsucht nach Unerreichbarem verzehrt, lebte
ich einige Monate hin, fleißig und doch unstet, glühend und doch nach Wärme
verlangend. Mittlerweile war die Natur klüger als ich und löste das peinliche Rätsel meines Zustandes. Eines Tages war ich verliebt und hatte unverhofft
alle Beziehungen zum Leben wieder, stärker und mannigfaltiger als je vorher.
Seitdem habe ich größere und köstlichere Stunden und Tage gehabt, aber
nie mehr solche Wochen und Monate, so warm und so erfüllt von einem stetig
strömenden Gefühl. Die Geschichte meiner ersten Liebe will ich Ihnen nicht
erzählen, es liegt nichts daran, und die äußeren Umstände hätten ebensogut
ganz andere sein können. Aber das Leben, das ich damals lebte, möchte ich
ein wenig zu schildern versuchen, wenn ich auch weiß, daß es mir nicht gelingen wird. Das hastige Suchen hatte ein Ende. Ich stand plötzlich mitten in
der lebendigen Welt und war durch tausend wurzelnde Fasern mit der Erde
und den Menschen verbunden. Meine Sinne schienen verändert, schärfer und
lebhafter. Namentlich die Augen. Ich sah ganz anders als früher. Ich sah heller und farbiger, wie ein Künstler, ich empfand Freude am reinen Anschauen.
Der Garten meines Vaters stand in sommerlicher Pracht. Da standen blüh-
ende Gesträuche und Bäume mit dichtem Sommerlaub gegen den tiefen Him-
mel, Efeu wuchs die hohe Stützmauer hinan, und darüber ruhte der Berg mit
rötlichen Felsen und blauschwarzem Tannenwald. Und ich stand und sah es an
und war ergriffen davon, daß jedes Einzelne so wunderlich schön und lebendig, farbig und strahlend war. Manche Blumen wiegten sich auf ihren Stengeln so
zart und blickten aus den farbigen Kelchen so rührend fein und innig, daß ich sie lieb hatte und sie genoß wie Lieder eines Dichters. Auch viele Geräusche, die ich früher nie beachtet hatte, fielen mir jetzt auf und sprachen zu mir und beschäftigten mich: der Laut des Windes in den Tannen und im Gras, das
Läuten der Grillen auf den Wiesen, der Donner entfernter Gewitter, das Rau-
schen des Flusses am Wehr und die vielen Stimmen der Vögel. Abends sah
und hörte ich die Schwärme der Fliegen im goldenen
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