Die Erzaehlungen 1900-1906
Vergnügen, und sie war mit diesem Leben nicht zufrieden. Sie hatte einen Kobold in sich, der necken und tanzen wollte, und einen Träumergeist, der
Märchen dichten wollte, und eine beständige Sehnsucht, das tägliche kleine
Leben mit dem großen herrlichen Leben zu verknüpfen, das in Liedern und
Gemälden, in schönen Büchern und im Sturm der Wälder und des Meeres
klang. Sie war nicht damit zufrieden, daß eine Blume nur eine Blume und ein
Spaziergang nur ein Spaziergang sein sollte. Eine Blume sollte eine Elfe, ein schöner Geist in schöner Verwandlung sein, und ein Spaziergang nicht eine
kleine pflichtmäßige Übung und Erholung, sondern eine ahnungsvolle Reise
nach dem Unbekannten, ein Besuch bei Wind und Bach, ein Gespräch mit
den stummen Dingen. Und wenn sie ein gutes Konzert gehört hatte, war sie
noch lang in einer fremden Geisterwelt, während ihr Mann längst in Pantof-
feln umherging, eine Zigarette rauchte, ein wenig über die Musik redete und
ins Bett begehrte.
Seit einiger Zeit mußte sie ihn nicht selten erstaunt ansehen und sich wun-
dern, daß er so war, daß er keine Flügel mehr hatte, daß er nachsichtig lächelte, wenn sie einmal recht aus ihrem inneren Leben heraus mit ihm reden wollte.
Immer wieder kam sie zu dem Entschluß, sich nicht zu ärgern, geduldig und
gut zu sein, es ihm in seiner Weise bequem zu machen. Vielleicht war er müde, vielleicht plagten ihn Dinge in seinem Amt, mit denen er sie verschonen wollte.
Er war so nachgiebig und freundlich, daß sie ihm danken mußte. Aber er war
nicht ihr Prinz, ihr Freund, ihr Herr und Bruder mehr, sie ging alle lieben
Wege der Erinnerung und Phantasie wieder allein, ohne ihn, und die Wege
waren dunkler geworden, da an ihrem Ende nicht mehr eine geheimnisvolle
Zukunft stand.
Die Glocke tönte, sein Schritt erklang im Flur, die Türe ging, und er kam
herein. Sie ging ihm entgegen und erwiderte seinen Kuß.
Geht’s gut, Schatz?
Ja, danke, und dir?
Dann gingen sie zu Tisch.
Du , sagte sie,
paßt es dir, daß Ludwig heut abend kommt?
Wenn dir dran liegt, natürlich.
Ich könnte ihm nachher telefonieren. Weißt du, ich kann es kaum mehr
erwarten.
Was denn?
Die neue Musik. Er hat ja neulich erzählt, daß er diese neuen Sonaten
studiert hat und sie jetzt spielen kann. Sie sollen so schwer sein.
Ach ja, von dem neuen Komponisten, nicht?
Ja, Reger heißt er. Es müssen merkwürdige Sachen sein, ich bin schrecklich
gespannt.
Ja, wir werden ja hören. Ein neuer Mozart wird’s auch nicht sein.
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Also heut abend. Soll ich ihn gleich zum Essen bitten?
Wie du willst, Kleine.
Bist du auch neugierig auf den Reger? Ludwig hat so begeistert von ihm
gesprochen.
Nun, man hört immer gern was Neues. Ludwig ist vielleicht ein bißchen
sehr enthusiastisch, nicht? Aber schließlich muß er von Musik mehr verstehen als ich. Wenn man den halben Tag Klavier spielt!
Beim schwarzen Kaffee erzählte ihm Hedwig Geschichten von zwei Buchfin-
ken, die sie heute in den Anlagen gesehen hatte. Er hörte wohlwollend zu und lachte.
Was du für Einfälle hast! Du hättest Schriftstellerin werden können!
Dann ging er fort, aufs Amt, und sie sah ihm vom Fenster aus nach, weil
er das gern hatte. Darauf ging auch sie an die Arbeit. Sie trug die letzte
Woche im Ausgabenbüchlein nach, räumte ihres Mannes Zimmer auf, wusch
die Blattpflanzen ab und nahm schließlich eine Näharbeit vor, bis es Zeit war, wieder nach der Küche zu sehen.
Gegen acht Uhr kam ihr Mann und gleich darauf Ludwig, ihr Bruder. Er
gab der Schwester die Hand, begrüßte den Schwager und nahm dann nochmals
Hedwigs Hände.
Beim Abendessen unterhielten sich die Geschwister lebhaft und vergnügt.
Der Mann warf hie und da ein Wort dazwischen und spielte zum Scherz den
Eifersüchtigen. Ludwig ging darauf ein, sie aber sagte nichts dazu, sondern
wurde nachdenklich. Sie fühlte, daß wirklich unter ihnen dreien ihr Mann der Fremde war. Ludwig gehörte zu ihr, er hatte dieselbe Art, denselben Geist, die gleichen Erinnerungen wie sie, er sprach dieselbe Sprache, begriff und erwiderte jede kleine Neckerei. Wenn er da war, umgab sie eine heimatliche Luft; dann war alles wieder wie früher, dann war alles wieder wahr und lebendig, was sie von Hause her in sich trug und was von ihrem Mann freundlich geduldet, aber
nicht erwidert und im Grunde vielleicht auch nicht verstanden wurde.
Man blieb noch beim Rotwein sitzen, bis Hedwig mahnte. Nun gingen sie in
den
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