Die Erzaehlungen 1900-1906
herzlich lachen, ohne mich
darum geringzuschätzen. Möglich, daß ich selber einmal darüber lachen werde; heute kann ich es nicht und wünsche es mir auch nicht.
In treuer Verehrung Ihr ergebener B.
(1906)
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Abschiednehmen
Lieber Theo!
Bitte, lies diesen Brief aufmerksam, auch wenn er ein wenig lang und eintönig ausfallen sollte, und sage niemand etwas von ihm. Wenn ich hinzufüge, daß
es vermutlich mein letzter Brief an Dich sein wird, so soll Dich das nicht
erschrecken, denn ich habe weder im Sinn zu sterben, noch Dir untreu zu
werden.
Es ist eine recht peinliche Sache. Ich bin, um es gleich deutlich zu sagen, im Begriff blind zu werden. Vor acht Tagen war ich zum letztenmal in der Stadt
beim Augenarzt, und seither weiß ich und muß mich damit abzufinden suchen,
daß meine schwachen Augen längstens noch etwa ein Jahr vorhalten werden.
Die Kur, die ich diesen Winter durchmachte, ist ohne Erfolg geblieben.
Nimm mir’s nicht übel, daß ich nun gerade zu Dir komme! Klagen will ich
ja nicht, aber ein bißchen darüber zu reden, ist mir doch ein Bedürfnis. Hier habe ich, wie Du weißt, niemand als meine Frau, und der wollte ich einstweilen nichts davon sagen. Wir hatten mein Augenleiden als eine vorübergehende
Ermüdung betrachtet, und ich möchte ihr nun die Wahrheit nicht früher sa-
gen, als bis ich selber mich einigermaßen darein gefunden habe. Sonst säßen
wir einander gar zu trostlos gegenüber. Auch würde sie, wenn ich es ihr sagte, mir entweder einreden wollen, ich sehe zu schwarz und es sei nicht so schlimm, oder sie würde schon jetzt, noch vor der Zeit, mich mit Mitleid und Fürsorge wie einen Blinden behandeln, und beides wäre mir wahrscheinlich gleich unerträglich.
So suche ich Dich auf, um Dir von meinem Zustand und von den Gedan-
ken, die mich zur Zeit beschäftigen, zu erzählen, so wie wir früher manche
Erlebnisse geteilt und miteinander besprochen haben. Und da das Schreiben
mir nun doch bald nicht mehr möglich sein wird, sollst Du der letzte sein, mit dem ich mich auf diese Art unterhalte.
Sorge sollst Du um mich nicht haben. Vielleicht werde ich ja auch später
noch arbeiten können, mit Hilfe von Vorlesen, Diktieren usw., und auch wenn
das nicht gehen sollte, werde ich doch nicht in Not geraten.
Bis jetzt habe ich nichts aufgeben müssen als das Lesen. Das war ja freilich sonst meine Hauptbeschäftigung, doch habe ich, Gott sei Dank, viel Schönes
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und Erbauliches im Kopf behalten und bin auch wohl nie so sehr Stubenhocker
gewesen, daß ich ohne Bücher nimmer leben könnte. Bedauerlich ist es ja, und wenn ich an meinen vielen Büchern vorbeigehe, kann ich oft nicht widerstehen und nehme einen Band heraus, um mir eine halbe Stunde von meiner Frau
vorlesen zu lassen. Natürlich darf ich das nicht allzu häufig tun, damit sie nicht merkt, wie es mit mir steht. Übrigens sind meine Augen noch immer so,
daß ich selber noch lesen könnte; aber lang würde das doch nimmer dauern,
so spare ich sie lieber für Wichtigeres.
Das ist es, wovon ich Dir eigentlich erzählen wollte. Ich lebe seit meiner Ver-urteilung hier wie einer, der Abschied nimmt. Ein merkwürdiger Zustand, der
zu manchen Gedanken anregt und sonderbarerweise nicht nur Schmerzliches
bringt. Du kennst unsere Gegend, unseren Hügel und mein Häuschen mit dem
Blick auf das weite Kornland und die Wiesen. Das alles sehe ich mir jetzt an und merke, wie vieles mir doch in allen den Jahren davon unbekannt geblieben ist. Denn, nicht wahr, jetzt muß ich es alles recht gut und genau kennenlernen, um nachher nicht in einer Fremde leben zu müssen, sondern auch ohne Augen darin heimisch sein zu können. Ich gehe herum und bin oft verwundert,
wie viel es zu sehen gibt, wenn man einmal wirklich trinkt,
was die Wimper
hält . Dabei genieße ich sogar noch eine vielleicht lächerliche Eitelkeit. Denn schau, ich kann mir nicht helfen, aber bei diesem Abschiednehmen und dieser
letzten, gierigen Augenlust will es mir immer mehr so vorkommen, als sei ein rechter Künstler an mir verloren gegangen, als verstehe ich das Schauen ganz besonders. Oder vielleicht sehe ich jetzt, in meinem betrüblichen Ausnahme-zustand, die Welt so an, wie ein Künstler sie immer sieht. Und daran habe
ich, wenn auch unter Schmerzen, meine Freude.
Ein Haferfeld und ein Erlenbaum, von dem ich weiß, daß ich ihn in ein
paar Monaten nimmer werde sehen können, sieht ganz anders aus, als er mir
früher erschien. Alles und
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