Die Erzaehlungen 1900-1906
galt ihr die Bibel und ihr angeborenes Gefühl weit mehr als die Norm der Kirche. Peinlich achtete sie darauf, ihr tägliches Tun und
Leben stets im Einklang mit ihrer Ehrfurcht vor Gott und den ihr gefühlsmäßig innewohnenden Gesetzen zu halten. Dabei entzog sie sich den natürlichen
Begebnissen und Forderungen des Tages nicht, nur bewahrte sie sich ein stilles Gebiet im Innern, wohin Begebnisse und Worte nicht reichen durften und wo
sie in sich selber ausruhen oder in unsicheren Lagen ihr Gleichgewicht suchen konnte.
Es konnte nicht ausbleiben, daß von den beiden Frauen und der Art des
Zusammenhausens auch der kleine Walter beeinflußt wurde. Doch nahm ihn
fürs erste die Schule zu sehr in Anspruch, als daß er viel für sonstige Gespräche und Belehrungen übrig gehabt hätte. Auch ließ ihn die Mutter gern in Ruhe,
und je sicherer sie seines innersten Wesens war, desto unbefangener beobach-
tete sie, wie viele Eigenschaften und Eigentümlichkeiten des Vaters nach und nach in dem Kinde zum Vorschein kamen. Namentlich in der äußeren Gestalt
wurde er ihm immer ähnlicher.
Aber wenn auch vorerst niemand etwas Besonderes an ihm fand, so war
der Knabe doch von recht ungewöhnlicher Natur. So wenig die braunen Au-
gen in sein Kömpffsches Familiengesicht paßten, so unverschmelzbar schienen
in seinem Gemüt väterliches und mütterliches Erbteil nebeneinander zu lie-
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gen. Einstweilen spürte selbst die Mutter nur selten etwas davon. Doch war
Walter nun schon in die späteren Kinderjahre getreten, in welchen allerlei
Gärungen und seltsame Rösselsprünge vorkommen und wo die jungen Leu-
te sich beständig zwischen empfindlicher Schamhaftigkeit und derbem Wild-
tun hin und wider bewegen. Da war es immerhin gelegentlich auffallend, wie
schnell oft seine Erregungen wechselten und wie leicht seine Gemütsart um-
schlagen konnte. Ganz wie sein Vater fühlte er nämlich das Bedürfnis, sich
dem Durchschnitt und herrschenden Ton anzupassen, war also ein guter Klas-
senkamerad und Mitschüler, auch von den Lehrern gern gesehen. Und doch
schienen daneben andre Bedürfnisse in ihm mächtig zu sein. Wenigstens war
es einmal, als besänne er sich auf sich selbst und lege eine Maske ab, wenn
er sich von einem tobenden Spiel beiseite schlich und sich entweder einsam in seine Dachbodenkammer setzte oder mit ungewohnter, stummer Zärtlichkeit
zur Mutter kam. Gab sie ihm dann gütig nach und erwiderte sein Liebkosen,
so war er unknabenhaft gerührt und weinte sogar zuweilen. Auch hatte er
einst an einer kleinen Rachehandlung der Klasse gegen den Lehrer teilgenom-
men und fühlte sich, nachdem er sich zuvor laut des Streiches gerühmt hatte, nachher plötzlich sehr zerknirscht, daß er aus eigenem Antrieb hinging und
um Verzeihung bat.
Das alles war erklärlich und sah harmlos aus. Es zeigte sich dabei zwar
eine gewisse Schwäche, aber auch das gute Herz Walters, und niemand hatte
Schaden davon. So verlief die Zeit bis zu seinem fünfzehnten Jahr in Stille und Zufriedenheit für Mutter, Magd und Sohn. Auch Herr Leipolt gab sich um
Walter Mühe, suchte wenigstens seine Freundschaft durch öfteres Überreichen
von kleinen, für Knaben erfreulichen Ladenartikeln zu erwerben. Dennoch
liebte Walter den allzu höflichen Ladenmann gar nicht und wich ihm nach
Kräften aus.
Am Ende des letzten Schuljahrs hatte die Mutter eine Unterredung mit dem
Söhnlein, wobei sie zu erkunden suchte, ob er auch wirklich entschlossen und ohne Widerstreben damit einverstanden sei, nun Kaufmann zu werden. Sie
traute ihm eher Neigung zu weiteren Schul- und Studienjahren zu. Aber der
Jüngling hatte gar nichts einzuwenden und nahm es für selbstverständlich hin, daß er jetzt ein Ladenlehrling werde. So sehr sie im Grunde darüber erfreut
sein mußte und auch war, kam es ihr doch fast wie eine Art von Enttäuschung
vor. Zwar gab es noch einen ganz unerwarteten Widerstand, indem der Junge
sich hartnäckig weigerte, seine Lehrzeit im eignen Hause unter Herrn Leipolt abzudienen, was das einfachste und für ihn auch das leichteste gewesen wäre
und bei Mutter und Vormund längst für selbstverständlich gegolten hatte. Die Mutter fühlte nicht ungern in diesem festen Widerstand etwas von ihrer eignen Art, sie gab nach, und es wurde in einem andern Kaufhaus eine Lehrstelle für den Knaben gefunden.
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Walter begann seine neue Tätigkeit mit dem üblichen Stolz und Eifer, wußte
täglich viel davon zu erzählen
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