Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
Vom Netzwerk:
stieß er in der Bibel auf Stellen, von denen er sich wie ein Verbrecher getroffen fühlte.
    In dieser qualvollen Zeit war er gegen die Holderlies weich und fügsam wie
    ein schuldbewußtes Kind. Er gewöhnte sich an, sie wegen Kleinigkeiten fle-
    hentlich um Verzeihung zu bitten, und brachte sie damit nicht wenig in Angst.
    Sie fühlte, daß sein Verstand am Erlöschen sei, und doch wagte sie es nicht, jemand davon zu sagen.
    Eine Weile hielt sich Kömpff ganz zu Hause. Gegen Weihnachten hin wur-
    de er unruhig, erzählte viel aus alten Zeiten und von seiner Mutter, und da
    die Ruhelosigkeit ihn wieder oft aus dem Hause trieb, fingen jetzt manche
    Unzuträglichkeiten an. Denn inzwischen hatte er seine Unbefangenheit den
    Menschen gegenüber verloren. Er merkte, daß er auffiel, daß man von ihm
    sprach und auf ihn zeigte, daß Kinder ihm nachliefen und ernste Leute ihm
    auswichen.
    Nun fing er an, sich unsicher zu fühlen. Manchmal zog er vor Leuten, denen
    er begegnete, den Hut übertrieben tief. Auf andre trat er zu, bot ihnen die
    Hand und bat herzlich um Entschuldigung, ohne zu sagen wofür. Und einem
    Knaben, der ihn durch Nachahmung seines Ganges verhöhnte, schenkte er
    seinen Spazierstock mit elfenbeinernem Griff.
    Einem seiner früheren Bekannten und Kunden, der damals auf seine ersten
    kaufmännischen Torheiten hin sich von ihm entfernt hatte, machte er einen
    Besuch und sagte, es tue ihm leid, bitter leid, er möge ihm doch vergeben und ihn wieder freundlich ansehen.
    Eines Abends, kurz vor Neujahr, ging er – seit mehr als einem Jahr zum
    erstenmal – in den Hirschen und setzte sich an den Honoratiorentisch. Er
    war früh gekommen und der erste Abendgast. Allmählich trafen die andern
    ein, und jeder sah ihn mit Erstaunen an und nickte verlegen, und einer um
    den andern kam, und mehrere Tische wurden besetzt. Nur der Tisch, an dem
    Kömpff saß, blieb leer, obwohl es der Stammtisch war. Da bezahlte er den
    Wein, den er nicht getrunken hatte, grüßte traurig und ging heim.
    Ein tiefes Schuldbewußtsein machte ihn gegen jedermann unterwürfig. Er
    nahm jetzt sogar vor Alois Beckeler den Hut ab, und wenn Kinder ihn aus
    Mutwillen anstießen, sagte er Pardon. Viele hatten Mitleid mit ihm, aber er
    war der Narr und das Kindergespött der Stadt.
    Man hatte Kömpff vom Arzt untersuchen lassen. Der hatte seinen Zustand
    als primäre Verrücktheit bezeichnet, ihn übrigens für harmlos erklärt und
    befürwortet, daß man den Kranken daheim und bei seinem gewohnten Leben
    lasse.
    399
    Seit dieser Untersuchung war der arme Kerl mißtrauisch geworden. Auch
    hatte er sich gegen die Entmündigung, die nun doch über ihn verfügt werden
    mußte, verzweifelt gesträubt. Von da an nahm seine Krankheit eine andere
    Form an.
    Lies , sagte er eines Tages zur Haushälterin,
    Lies, ich bin doch ein Esel
    gewesen. Aber jetzt weiß ich, wo ich dran bin.
    Ja, und wie denn auf einmal?
    fragte sie ängstlich, denn sein Ton gefiel
    ihr nicht.
    Paß auf, Lies, du kannst was lernen. Also nicht wahr, ein Esel hab ich
    gesagt. Da bin ich mein Leben lang gelaufen und hab mich abgehetzt und
    mein Glück versäumt um etwas, was es gar nicht gibt!
    Das versteh ich nun wieder nicht.
    Stell dir vor, einer hat von einer schönen, prächtigen Stadt in der Ferne
    gehört. Er hat ein großes Verlangen, dorthin zu kommen, wenn es auch noch
    so weit ist. Schließlich läßt er alles liegen, gibt weg, was er hat, sagt allen guten Freunden adieu und geht fort, immer fort und fort, tagelang und monatelang,
    durch dick und dünn, so lange er noch Kräfte hat. Und dann, wie er so weit ist, daß er nimmer zurück kann, fängt er an zu merken, daß das von der prächtigen Stadt in der Ferne ein Lug und Märchen war. Die Stadt ist gar nicht da und
    ist niemals dagewesen.
    Das ist traurig. Aber das tut ja niemand, so was.
    Ich, Lies, ich doch! Ich bin so einer gewesen, das kannst du sagen, wem du
    willst. Mein Leben lang, Lies.
    Ist nicht möglich, Herr! Was ist denn das für eine Stadt?
    Keine Stadt, das war nur so ein Vergleich, weißt du. Ich bin ja immer
    hier geblieben. Aber ich habe auch ein Verlangen gehabt und darüber alles
    versäumt und verloren. Ich habe ein Verlangen nach Gott gehabtnach dem
    Herrgott, Lies. Den hab ich finden wollen, dem bin ich nachgelaufen, und jetzt bin ich so weit, daß ich nimmer zurück kann verstehst du? Nimmer zurück.
    Und alles ist ein Lug gewesen.
    Was denn? Was ist ein Lug gewesen?
    Der liebe Gott, du. Er ist

Weitere Kostenlose Bücher