Die Erzaehlungen 1900-1906
stieß er in der Bibel auf Stellen, von denen er sich wie ein Verbrecher getroffen fühlte.
In dieser qualvollen Zeit war er gegen die Holderlies weich und fügsam wie
ein schuldbewußtes Kind. Er gewöhnte sich an, sie wegen Kleinigkeiten fle-
hentlich um Verzeihung zu bitten, und brachte sie damit nicht wenig in Angst.
Sie fühlte, daß sein Verstand am Erlöschen sei, und doch wagte sie es nicht, jemand davon zu sagen.
Eine Weile hielt sich Kömpff ganz zu Hause. Gegen Weihnachten hin wur-
de er unruhig, erzählte viel aus alten Zeiten und von seiner Mutter, und da
die Ruhelosigkeit ihn wieder oft aus dem Hause trieb, fingen jetzt manche
Unzuträglichkeiten an. Denn inzwischen hatte er seine Unbefangenheit den
Menschen gegenüber verloren. Er merkte, daß er auffiel, daß man von ihm
sprach und auf ihn zeigte, daß Kinder ihm nachliefen und ernste Leute ihm
auswichen.
Nun fing er an, sich unsicher zu fühlen. Manchmal zog er vor Leuten, denen
er begegnete, den Hut übertrieben tief. Auf andre trat er zu, bot ihnen die
Hand und bat herzlich um Entschuldigung, ohne zu sagen wofür. Und einem
Knaben, der ihn durch Nachahmung seines Ganges verhöhnte, schenkte er
seinen Spazierstock mit elfenbeinernem Griff.
Einem seiner früheren Bekannten und Kunden, der damals auf seine ersten
kaufmännischen Torheiten hin sich von ihm entfernt hatte, machte er einen
Besuch und sagte, es tue ihm leid, bitter leid, er möge ihm doch vergeben und ihn wieder freundlich ansehen.
Eines Abends, kurz vor Neujahr, ging er – seit mehr als einem Jahr zum
erstenmal – in den Hirschen und setzte sich an den Honoratiorentisch. Er
war früh gekommen und der erste Abendgast. Allmählich trafen die andern
ein, und jeder sah ihn mit Erstaunen an und nickte verlegen, und einer um
den andern kam, und mehrere Tische wurden besetzt. Nur der Tisch, an dem
Kömpff saß, blieb leer, obwohl es der Stammtisch war. Da bezahlte er den
Wein, den er nicht getrunken hatte, grüßte traurig und ging heim.
Ein tiefes Schuldbewußtsein machte ihn gegen jedermann unterwürfig. Er
nahm jetzt sogar vor Alois Beckeler den Hut ab, und wenn Kinder ihn aus
Mutwillen anstießen, sagte er Pardon. Viele hatten Mitleid mit ihm, aber er
war der Narr und das Kindergespött der Stadt.
Man hatte Kömpff vom Arzt untersuchen lassen. Der hatte seinen Zustand
als primäre Verrücktheit bezeichnet, ihn übrigens für harmlos erklärt und
befürwortet, daß man den Kranken daheim und bei seinem gewohnten Leben
lasse.
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Seit dieser Untersuchung war der arme Kerl mißtrauisch geworden. Auch
hatte er sich gegen die Entmündigung, die nun doch über ihn verfügt werden
mußte, verzweifelt gesträubt. Von da an nahm seine Krankheit eine andere
Form an.
Lies , sagte er eines Tages zur Haushälterin,
Lies, ich bin doch ein Esel
gewesen. Aber jetzt weiß ich, wo ich dran bin.
Ja, und wie denn auf einmal?
fragte sie ängstlich, denn sein Ton gefiel
ihr nicht.
Paß auf, Lies, du kannst was lernen. Also nicht wahr, ein Esel hab ich
gesagt. Da bin ich mein Leben lang gelaufen und hab mich abgehetzt und
mein Glück versäumt um etwas, was es gar nicht gibt!
Das versteh ich nun wieder nicht.
Stell dir vor, einer hat von einer schönen, prächtigen Stadt in der Ferne
gehört. Er hat ein großes Verlangen, dorthin zu kommen, wenn es auch noch
so weit ist. Schließlich läßt er alles liegen, gibt weg, was er hat, sagt allen guten Freunden adieu und geht fort, immer fort und fort, tagelang und monatelang,
durch dick und dünn, so lange er noch Kräfte hat. Und dann, wie er so weit ist, daß er nimmer zurück kann, fängt er an zu merken, daß das von der prächtigen Stadt in der Ferne ein Lug und Märchen war. Die Stadt ist gar nicht da und
ist niemals dagewesen.
Das ist traurig. Aber das tut ja niemand, so was.
Ich, Lies, ich doch! Ich bin so einer gewesen, das kannst du sagen, wem du
willst. Mein Leben lang, Lies.
Ist nicht möglich, Herr! Was ist denn das für eine Stadt?
Keine Stadt, das war nur so ein Vergleich, weißt du. Ich bin ja immer
hier geblieben. Aber ich habe auch ein Verlangen gehabt und darüber alles
versäumt und verloren. Ich habe ein Verlangen nach Gott gehabtnach dem
Herrgott, Lies. Den hab ich finden wollen, dem bin ich nachgelaufen, und jetzt bin ich so weit, daß ich nimmer zurück kann verstehst du? Nimmer zurück.
Und alles ist ein Lug gewesen.
Was denn? Was ist ein Lug gewesen?
Der liebe Gott, du. Er ist
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