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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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rastend
    den fabelhaften Vorgängen am Himmel zu:
    Hellgelbe Lichtbündel strahlten vom Rande einer schweren Wolkenbank in
    die Höhe und gegen Osten. Rasch entzündete sich der ganze Himmel gelbrot,
    glühend purpurne Streifen durchschnitten den Raum, zur gleichen Zeit wur-
    den alle Berge dunkelblau, an den Seeufern brannte das rötlich welke Ried
    wie Heidefeuer. Dann verschwand alles Gelb, und das rote Licht wurde warm
    und milde, spielte paradiesisch um traumzarte, hingehauchte Schleierwölkchen und lief in tausend feinen Adern rosenrot durch mattgraue Nebelwände, deren
    Grau sich langsam mit dem Rot zu einem unsäglich schönen Lilaton vermisch-
    te. Der See wurde tiefblau und nahezu schwarz, die Untiefen in der Nähe der
    Ufer traten hellgrün mit scharfen Rändern hervor.
    Als der fast schmerzlich schöne Farbenkampf erlosch, dessen Feuer und ra-
    pide Flüchtigkeit an großen Horizonten immer etwas hinreißend Kühnes hat,
    wandte ich mich landeinwärts und blickte erstaunt in eine schon völlig abend-klare, gekühlte Tälerlandschaft. Unter einem großen Nußbaum trat ich auf
    eine bei der Lese vergessene Frucht, hob sie auf und schälte mir die frische, lichtbraune, feuchte Nuß heraus. Und als ich sie zerbiß und den scharfen Geruch und Geschmack verspürte, überraschte mich unversehens eine Erinne-
    rung. Wie von einem Stück Spiegelglas ein Lichtstrahl reflektiert und in einen dunkeln Raum geworfen wird, so blitzt oft mitten im Gegenwärtigen, durch
    eine Nichtigkeit entzündet, ein vergessenes, längst gewesenes Stückchen Leben auf, erschreckend und unheimlich.
    Das Erlebnis, an das ich in jenem Augenblick nach vielleicht zwölf oder mehr Jahren zum erstenmal wieder dachte, war mir ebenso peinlich wie teuer. Als ich mit etwa fünfzehn Jahren auswärts in einem Gymnasium war, besuchte mich
    eines Tages im Herbst meine Mutter. Ich hielt mich sehr kühl und stolz, wie es mein Gymnasiastenhochmut forderte, und tat ihr mit hundert Kleinigkeiten
    weh. Andern Tages reiste sie wieder ab, kam aber vorher noch ans Schulhaus
    und wartete unsere Morgenpause ab. Als wir lärmend aus den Klassenzimmern
    hervorbrachen, stand sie bescheiden und lächelnd draußen, und ihre schönen
    gütigen Augen lachten mir schon von weitem entgegen. Mich aber genierte
    die Gegenwart meiner Herren Mitschüler, darum ging ich ihr nur langsam
    entgegen, nickte ihr leichthin zu und trat so auf, daß sie ihre Absicht, mir 435
    einen Abschiedskuß und Segen zu geben, aufgeben mußte. Betrübt, aber tapfer
    lächelte sie mich an, und plötzlich lief sie schnell über die Straße zur Bude eines Fruchthändlers, kaufte ein Pfund Nüsse und gab mir die Tüte in die
    Hand. Dann ging sie fort, zur Eisenbahn, und ich sah sie mit ihrer kleinen
    altmodischen Ledertasche um die Straßenecke verschwinden. Kaum war sie
    mir aus den Augen, so tat mir alles bitter leid, und ich hätte ihr meine törichte Bubenroheit unter Tränen abbitten mögen. Da kam einer meiner Kameraden
    vorbei, mein Hauptrivale in Angelegenheiten des savoir vivre.
    Bonbons von
    Mamachen?
    fragte er boshaft lächelnd. Ich, sofort wieder stolz, bot ihm die
    Tüte an, und da er nicht annahm, verteilte ich alle Nüsse, ohne eine für mich zu behalten, an die Kleinen von der vierten Klasse.
    Zornig biß ich auf meine Nuß, warf die Schalen ins schwärzliche Laub, das
    den Boden bedeckte, und wanderte auf der bequemen Straße unter einem
    grünblau und golden verhauchenden Späthimmel hin zu Tal und bald dar-
    auf an herbstgelben Birken und fröhlichen Vogelbeerbüschen vorbei in die
    bläuliche Dämmerung junger Tannenstände und dann in die tiefen Schatten
    eines hohen Buchenwaldes hinein.
    Das stille Dorf
    Zwei Stunden später am Abend hatte ich mich, nach langem, sorglosem Schlen-
    dern, in einem Gewimmel schmaler, finsterer Waldwege verlaufen und suchte,
    je dunkler und kühler es wurde, desto ungeduldiger nach einem Ausgang. Mich
    geradeaus durch den Laubwald zu schlagen, ging nicht an, der Wald war dicht
    und der Boden stellenweise sumpfig, auch wurde es allmählich stockfinster.
    Stolpernd und müde tastete ich in der wunderlichen Aufregung des nächt-
    lichen Verirrtseins weiter. Häufig blieb ich stehen, um zu rufen und dann lang zu lauschen. Es blieb alles still, und die kühle Feierlichkeit und dichte Schwärze des lautlosen Waldinnern umgab mich von allen Seiten, wie Vorhänge von
    dickem Sammet. So töricht und eitel es war, machte mir doch der Gedanke
    Freude, daß

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