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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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der gute weiße Landwein.
    Der floß noch wie je so herb und freudig, blinkte gelblich im fußlosen Glase und weckte in mir das schlummernde Gedächtnis zahlreicher Kneipnächte und
    Kneipenstreiche. Mich aber kannte niemand wieder, und ich saß im Getümmel
    und nahm am Gespräch teil als ein zufällig hereinverschlagener Fremder.
    Gegen Mitternacht, nachdem auch ich einen Becher oder zwei über den
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    Durst genossen hatte, gab es einen Streit. Um eine Bagatelle, die ich schon
    am andern Tag vergessen hatte, ging es los, hitzige Worte klangen, und drei, vier halbberauschte Männer schrien zornig auf mich ein. Da hatte ich genug
    und stand auf.
    Danke, meine Herren, an Händeln liegt mir nichts. Übrigens sollte der Herr
    da sich nicht so unnötig erhitzen, er hat ja ein Leberleiden.
    Woher wissen Sie das?
    rief er noch barsch, aber verblüfft.
    Ich sehe es Ihnen an, ich bin Arzt. Sie sind fünfundvierzig Jahre alt, nicht wahr?
    Stimmt.
    Und haben vor etwa zehn Jahren eine schwere Lungenentzündung durch-
    gemacht?
    Herrgott, ja. An was sehen Sie denn das?
    Ja, das sieht man eben, wenn man geübt ist. Also gute Nacht, Ihr Herren!
    Sie grüßten alle ganz höflich, der Leberleidende machte sogar eine Verbeu-
    gung. Ich hätte ihm auch noch seinen Vor- und Zunamen und den seiner Frau
    sagen können, ich kannte ihn gut und hatte früher manches Feierabendge-
    spräch mit ihm gehabt.
    In meiner Schlafkammer wusch ich mir das heiße Gesicht, schaute vom Fen-
    ster über die Dächer weg auf den blassen See hinüber und ging dann zu Bett.
    Eine Zeitlang hörte ich noch dem langsam abnehmenden Festlärmen zu, dann
    überkam mich die Müdigkeit, und ich schlief bis zum Morgen.
    Sturm
    Am verstürmten Himmel trieben zerfaserte Wolkenbänder, grau und lila, und
    ein heftiger Wind empfing mich, als ich am nächsten Vormittag nicht zu früh
    meine Weiterreise antrat. Bald war ich oben auf dem Hügelkamm und sah das
    Städtchen, das Schloß, die Kirche und den kleinen Bootshafen eng und spiel-
    zeughaft am Gestade unter mir liegen. Schnurrige Geschichten aus der Zeit
    meines früheren Hierseins fielen mir ein und machten mich lachen. Das konn-
    te ich brauchen, denn je näher ich dem Ziel meiner Wanderung rückte, desto
    befangener und schwüler wurde mir, ohne daß ich es mir gestehen mochte, das
    Herz.
    Das Gehen in der kühlen sausenden Luft tat mir wohl. Ich hörte dem un-
    gestümen Wind zu und sah im Vorwärtsschreiten auf dem Gratsteig mit auf-
    regender Wonne die Landschaft weiter und gewaltiger werden. Von Nordost
    her hellte der Himmel auf, dorthinüber war die Aussicht frei und zeigte lange, bläuliche Gebirgszüge in großartiger Ordnung aufgebaut.
    Der Wind nahm zu, je höher ich kam. Er sang herbstlich toll, mit Stöhnen
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    und mit Lachen, fabelhafte Leidenschaften andeutend, neben denen unsere nur
    Kindereien wären. Er schrie mir niegehörte, urweltliche Worte ins Ohr, wie
    Namen alter Götter. Er strich über den ganzen Himmel hinweg die irrenden
    Wolkentrümmer zu parallelen Streifen aus, in deren Linie etwas widerwillig
    Gebändigtes lag und unter welchen die Berge sich zu bücken schienen.
    Dem Brausen der Lüfte und dem Anblick der weiten Bergländer wich die
    leise Befangenheit und Bänglichkeit meiner Seele. Daß ich einem Wiedersehen
    mit meiner Jugendzeit und einem Kreise noch ungewisser Erregungen entge-
    genging, war nicht mehr so wichtig und beherrschend, seit Weg und Wetter
    mir lebendig geworden waren.
    Bald nach Mittag stand ich ausruhend auf dem höchsten Punkte des Höhen-
    weges, und mein Blick flog suchend und bestürzt über das ungeheuer ausge-
    breitete Land hinweg. Grüne Berge standen da und weiter entfernt blaue Wald-
    berge und gelbe Felsberge, tausendfach gefaltete Hügelgelände, dahinter das
    Hochgebirg mit jähen Steinzacken und bleichen Schneepyramiden. Zu Füßen
    in seiner ganzen Fläche der große See, meerblau mit weißen Wellenschäumen,
    zwei vereinzelte flüchtige Segel darauf, geduckt hingleitend, an den grün und braunen Ufern lodernd gelbe Weinberge, farbige Wälder, blanke Landstraßen,
    Bauerndörfer in Obstbäumen, kahlere Fischerdörfer, hell und dunkel getürmte
    Städte. Über alles weg bräunliche Wolken fegend, dazwischen Stücke eines tief klaren, grünblau und opalfarben durchleuchteten Himmels, Sonnenstrahlen
    fächerförmig aufs Gewölk gemalt. Alles bewegt, auch die Bergreihen wie hin-
    flutend und die ungleich beleuchteten Alpengipfel jäh, unstet und

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