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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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springend.
    Mit dem Sturm- und Wolkentreiben flog auch mein Fühlen und Begehren
    ungestüm und fiebernd über die Weite, ferne Schneezacken umarmend und
    flüchtig in hellgrünen Seebuchten rastend. Alte, betörende Wandergefühle liefen wechselnd und farbig wie Wolkenschatten über meine Seele, Empfindung
    der Trauer über Versäumtes, Kürze des Lebens und Fülle der Welt, Heimat-
    losigkeit und Heimatsuchen, wechselnd mit einem hinströmenden Gefühl der
    völligen Loslösung von Raum und Zeit.
    Langsam verrannen die Wogen, sangen und schäumten nicht mehr, und
    mein Herz wurde still und ruhte unbewegt, wie ein Vogel in großen Höhen.
    Da sah ich mit Lächeln und wiederkehrender Wärme Straßenkrümmen,
    Waldkuppen und Kirchtürme der vertrauten Nähe; das Land meiner schönen
    Jünglingsjahre blickte mich unverändert mit den alten Augen an. Wie ein Sol-
    dat auf seiner Landkarte den Feldzug von damals aufsucht und überliest, von
    Rührung so sehr wie vom Gefühl der Geborgenheit erwärmt, las ich in der
    herbstfarbenen Landschaft die Geschichte vieler wundervoller Torheiten und
    die schon fast zur Sage verklärte Geschichte einer gewesenen Liebe.
    433
    Erinnerungen
    In einem ruhigen Winkel, wo mir ein breiter Felsen den Sturm abhielt, aß ich zu Mittag, Schwarzbrot, Wurst und Käse. – Nach ein paar Stunden Bergauf-marsch bei starkem Winde der erste Biß in ein belegtes Brot – das ist eine
    Lust, fast die einzige, die noch das ganze durchdringend Köstliche, bis zur
    Sättigung Beglückende der echten Knabenfreuden hat.
    Morgen werde ich vielleicht an der Stelle im Buchenwald vorüberkommen,
    an der ich den ersten Kuß von Julie bekam. Auf einem Ausflug des Bürgerver-
    eins Konkordia, in den ich Julies wegen eingetreten war. Am Tag nach jenem
    Ausflug trat ich wieder aus.
    Und übermorgen vielleicht, wenn es glückt, werde ich sie selber wiedersehen.
    Sie hat einen wohlhabenden Kaufmann namens Herschel geheiratet, und sie
    soll drei Kinder haben, von denen eins ihr auffallend gleicht und auch Julie heißt. Mehr weiß ich nicht, es ist auch mehr als genug.
    Aber ich weiß noch genau, wie ich ihr ein Jahr nach meiner Abreise aus
    der Fremde schrieb, daß ich keine Aussicht auf Stellung und Geldverdienst
    habe und daß sie nicht auf mich warten möge. Sie schrieb zurück, ich solle
    mir und ihr das Herz nicht unnötig schwer machen; sie werde da sein, wenn
    ich wiederkäme, sei es bald oder spät. Und ein halbes Jahr später schrieb sie doch wieder und bat sich frei, für jenen Herschel, und im Leid und Zorn der
    ersten Stunde schrieb ich keinen Brief, sondern telegraphierte ihr mit meinem letzten Geld, vier oder fünf geschäftsmäßige Worte. Die gingen übers Meer
    und waren nicht zu widerrufen.
    Es geht so närrisch im Leben zu! War es Zufall oder Schicksalshohn, oder
    kam es vom Mut der Verzweiflung – kaum lag das Liebesglück in Scherben,
    da kam Erfolg und Gewinn und Geld wie hergezaubert, da war das nimmer
    Erhoffte im Spiel erreicht und war doch wertlos. Das Schicksal hat Mucken,
    dachte ich, und vertrank mit Kameraden in zwei Tagen und Nächten eine
    Brusttasche voll Banknoten.
    Doch an diese Geschichten dachte ich nicht lange, als ich nach der Mahlzeit
    mein leeres Wurstpapier dem Winde hinwarf und, in den Mantel gewickelt,
    Mittagsrast hielt. Ich dachte lieber an meine damalige Liebe und an Julies
    Gestalt und Gesicht, das schmale Gesicht mit den noblen Brauen und großen
    dunkeln Augen. Und dachte lieber an den Tag im Buchenwald, wie sie lang-
    sam und widerstrebend mir nachgab und dann bei meinen Küssen zitterte
    und dann endlich wiederküßte und ganz leise, wie aus einem Traum hervor,
    lächelte, während noch Tränen an ihren Wimpern glänzten.
    Vergangene Dinge! Das Beste daran war aber nicht das Küssen und nicht
    das abendliche Zusammenpromenieren und Heimlichtun. Das Beste war die
    Kraft, die mir aus jener Liebe floß, die fröhliche Kraft, für sie zu leben, zu 434
    streiten, durch Feuer und Wasser zu gehen. Sich wegwerfen können für einen
    Augenblick, Jahre opfern können für das Lächeln einer Frau, das ist Glück.
    Und das ist mir unverloren.
    Pfeifend stand ich auf und ging weiter.
    Als die Straße jenseits vom Hügelkamm abwärts sank und ich genötigt war,
    vom Anblick der Seeweite Abschied zu nehmen, lag eben die Sonne, schon
    dem Untergehen nah, im Kampf mit trägen, gelben Wolkenmassen, die sie
    langsam umschleierten und verschlangen. Ich hielt inne und schaute

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